Pfr. Martin Dubberke

Von Reminiscere bis Judika

Das ist heute ein ganz besonderer Gottesdienst und es war mir wichtig, dass ich heute hier predige, weil Silas einfach ein ganz wichtiger Teil meines Lebens, meines theologischen Lebens ist.

Ich habe hier an dieser Stelle zum ersten Mal am Sonntag Reminiscere 1994 gepredigt. Das war der 27. Februar.  Also, vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren – ’ne ganz schön lange Zeit.

Der Sonntag Reminiscere hat seinen Namen vom Psalm 25, 6:

„Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“

Reminiscor heißt „sich erinnern“. Und was liegt an so einem Tag wie heute näher, als sich zu erinnern?

Und gleichzeitig ist heute Judika. Der Sonntag hat seinen Namen nach Psalm 43, 1:

„Gott schaffe mir Recht!“

Beide Verse bilden heute die Klammer meiner Predigt.

Sich erinnern und „Gott schaffe mir Recht“.

Ich bin kein Zahlenmystiker, aber als ich die beiden Stellenangaben sah, musste ich schon ein wenig schmunzeln.

Reminiscere ist Psalm 25, 6. Ich bin am 25. Juni geboren. Ein schöner Zufall, dass ich meine Zeit in dieser Gemeinde mit dieser Bibelstelle begonnen habe: Denke an dein Erbarmen.

Und das heutige Psalmwort stammt aus Psalm 43, 1. Sie werden jetzt gleich genauso schmunzeln wie ich, denn ich wohne mittlerweile im Bonhoeffer-Haus, und das ist in der Marienburger Allee 43 – ein alleinstehendes Haus. Und wenn ich mir jetzt vor diesem Hintergrund noch einmal den ganzen Vers anschaue, halte ich es nicht mehr für einen Zufall:

„Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wieder das unheilige Volk.“

Das Haus, in dem ich heute wohne, und in dem Dietrich Bonhoeffer gewohnt und gearbeitet hat, war ein Haus des Widerstands, ein Haus der Bekennenden Kirche. In seinem kleinen Band „Das Gebetbuch der Bibel“ schreibt er 1940 im Blick auf diesen Vers: „Daß wir um der Sache Gottes verfolgt werden, setzt uns wirklich ins Recht gegenüber dem Feind Gottes.“ (DBW 5, 128)

Und so rahmen nun beide Texte wichtige biographische Momente in meinem Leben. Ich bin weit davon entfernt, ein Numerologe zu sein., aber auch der Glaube besteht aus Zeichen und Hinweisen, aus Symbolen. So, wie der Glaube etwas ist, das einen ganz persönlich berührt und in Bewegung setzt.

Sich an Menschen zu erinnern, die mir, die uns in unserem Leben begegnet sind, bedeutet auch, kleinen Glaubensgeschichten zu begegnen. Jeder dieser Menschen, die mir in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren hier in der Gemeinde, hier in diesem Raum beim Gottesdienst begegnet sind, haben ihre Spuren bei mir, bei uns hinterlassen. Manchmal mit einem Lächeln, manchmal mit einem Streit und manchmal mit einem weisen Wort. Jeder dieser Menschen hat mich, hat uns geprägt, so wie der Glaube auch wesentlich Dialog mit Gott und Dialog über Gott ist. So, wie die Bibel voll von beispielhaften Geschichten ist, so ist auch Silas voll dieser Geschichten. Und daran möchte ich heute erinnern. Und mein Erinnern beginnt mit meinem ersten Gottesdienst in Silas.

Es war der 27. Februar 1994. Ich war ein junger Vikar und ich war sehr aufgeregt vor meinem ersten Gottesdienst hier in meiner Vikariatsgemeinde.

Damals als ich – so wie auch heute – mich in der Küchen-Sakristei auf den Gottesdienst vorbereitete, meinen Talar auspackte, mir noch einmal den Gottesdienstablauf und meine Predigt anschaute, war auch der damalige Haus- und Kirchwart, Herr S. , da und bereitete seinerseits alles vor. Plötzlich geht die Tür hier hinten am Altarraum auf und Heiner, mein Mentor, auch bekannt als Pastor Kieztrotter, kommt in Latschen, schwarzer Hose und weißem Rollkragen in die Kirche. Er stürmte geradezu in die Küchen-Sakristei und in kürzester Zeit schrien sich Heiner und Herr S. an. Ich kann mich gar nicht mehr an den Auslöser erinnern. Das Ganze eskalierte und einer wünschte dem anderen den Tod an den Hals und ich weiß gar nicht mehr wer es war, aber plötzlich rief einer der beiden dem anderen zu: „Verrecke doch! Auf deinem Grab werde ich noch tanzen.“

Peinlich berührt, dachte ich mir: „Gott, wo bin ich hier hingeraten?“

Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich hier nicht nur zweiundzwanzig Jahre predigen würde, sondern dann auch einmal die letzte Predigt in einem regulären Gottesdienst halten würde – ganz ehrlich – ich hätte dem einen Vogel gezeigt und gesagt: Ich bin froh, wenn ich hier mein Vikariat halbwegs unbeschadet überlebe.

Aber wir wissen ja, Gottes Wege sind unergründlich. Und so wurde Silas dann gewissermaßen mein Schicksal. Zum einen habe ich von Heiner unendlich viel gelernt und an seiner Widerständigkeit partizipiert. Ich glaube, dass er da damals etwas in mir geweckt und auch dazu Mut gemacht hat, was ich heute produktiv in mein Arbeiten einbringen kann.

Ich erinnere mich aber auch an viele andere Menschen, die heute ebenfalls nicht mehr unter uns sind, und die Silas waren. Jede und jeder einzelne von ihnen hat dieser Gemeinde sein Gepräge gegeben, sie zu etwas Besonderem gemacht. Sie alle haben mit ihren Geschichten zur Geschichte von Silas beigetragen, wie Glaube in dieser Gemeinde, in diesem Raum gelebt wurde und wird. Hier wurde in so vielen Situationen spürbar, was Reminiscere bedeutet:

„Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“

Nie zuvor und nie danach habe ich eine Gemeinde mit so vielen Originalen erlebt, die alle unter dem Wort Gottes und seinem Erbarmen zusammenkamen, zusammenlebten und auch noch weitestgehend irgendwie miteinander zurechtkamen. Ein Ort der Gegensätze, aber auch der weit geöffneten Herzen.

Ich erinnere mich an unsere Zirkusprinzessin Charlotte. Sie hatte kein einfaches Leben, aber der Glaube an Gott gab ihr eine ungeheure Kraft. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie immer ihre Arme ausbreitete, die leuchtenden Augen nach unten blicken ließ und strahlte, als wenn sie sich für einen Applaus bedankt.

Zu ihr gehörte auch der gute Herr S., nie pünktlich im Gottesdienst, nie nüchtern, immer klamm.

Ich denke an Frau B., ihre Schwester und deren Sohn mit seiner Frau. Er spielte Klavier und Heiner und ich sangen dazu. Und sagte Heiner dazu immer: „Und wenn die Kirche uns nicht mehr bezahlen kann, dann gehen wir beide auf dem Friedhof singen.“

Unvergessen Frau J. und Frau St., die beiden Königinnen des Seniorenclubs. Ohne Sie wäre nichts gelaufen.

Und ich erinnere mich an Lydia, die Angst hatte, dass mit der Umstellung auf den Euro, ihr Erspartes plötzlich nichts mehr wert sei und somit nicht mehr ihr Leben finanzieren könnte. Vor lauter Angst hat sie sich im Schlachtensee das Leben genommen.

Ich erinnere mich auch an eine GKR-Rüste, bei der Gottfried und ich uns nicht nur ein Zimmer, sondern auch noch das Bett teilen mussten. Und so standen wir dann ein jeder am Abend vor seiner Bettseite, zogen uns aus und da sagte er dann in seiner unnachahmlichen Art zu mir: „Also, wenn wir schon in einem Bett schlafen, sollten wir uns auch duzen.“

Auch Gottfried lebt schon lange nicht mehr.

Ich erinnere mich, wie voll der Gottesdienst damals war. Wir waren um die vierzig und manchmal sogar fünfzig. Wer heute nicht mehr kommt, ist tot. Und auch das ist Silas. Silas ist mit den Jahren einen langsamen Tod gestorben.

Ich erinnere mich aber auch daran, wie ich zum Ende meines Vikariats die Pfarrvakanz übernommen habe, nachdem Heiner früher in den Ruhestand gegangen war, von dem er dann auch nicht so viel haben sollte. Und so war ich dann gewissermaßen ein halbes Jahr auch so etwas wie der Gemeindepfarrer. Damals bildeten wir mit Königin Luise einen Pfarrsprengel, eine Vorstufe zur Gemeindefusion, und ich weiß noch, wie sich keiner der beiden anderen Pfarrer traute, der Gemeinde beizubringen, dass die Gottesdienste dann in Zukunft am Samstag um 16:00 Uhr stattfinden würden. Das war dann mein Auftrag und ich werde nie den Blick vergessen, den ich von hier vorne wahrnahm. Das ist nun 20 Jahre her.

Ich erinnere mich aber auch an die Gemeindeversammlung anlässlich der Sprengelbildung kurz vor meinem Examen, als ein Mann aufstand und sagte: „Wir wollen keine Fusion. Wir wollen Martin Dubberke als unseren Pfarrer. Warum geht das nicht?“

Gänsehaut überkam mich, weil ich gerne auch meine Entsendungszeit hier verbracht hätte. Ich hatte mich in Silas verliebt. Es kam aber – wie wir wissen – alles anders und die Ironie an der Geschichte ist, dass ich dann doch – auch ohne Ordination – sowas wie der persönliche Hausgeistliche in Silas wurde und mittlerweile der dienstälteste Prediger in dieser nun großen Königin-Luise-Silas-Gemeinde bin.

Und heute halte ich nun mit Bruder Hansen zusammen den letzten 16:00 Uhr-Gottesdienst in Silas.

Die Menschen und Geschichten, an die ich heute erinnert habe, sind nur ein Ausschnitt. In Wirklichkeit gab es viele mehr. Und mit den meisten Geschichten wird deutlich, was der Beter des 25. Psalms sagt:

„Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend, und meiner Übertretungen, denke aber meiner nach Deiner Barmherzigkeit, HERR, um deiner Güte willen.“

Genau das, habe ich immer wieder hier erleben dürfen. Wir Menschen sind fehlbar. Wir sind nicht perfekt. Auch in dieser Gemeinde gab es Verletzungen, Kränkungen, Übertretungen, das ist so. Wir sind Menschen, nur Menschen, aber der Blick auf Gottes Barmherzigkeit und das Wissen um seine Güte und Barmherzigkeit hat nie vergessen lassen, was sich hinter dem Doppelgebot verbirgt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und grösste Gebot. Das andere aber ist dem gleich. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Matthäus 22, 37-40

Wenn ich nun heute hier stehe, ziehen all die Geschichten an mir vorüber. Und ich denke, es kann keinen besseren Tag geben, als Judika:

März 2016„Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wieder das unheilige Volk.“

Silas ist glaubensstark und widerständig. Und widerständig heißt nicht durch automatisch gegen etwas zu sein, sondern auch widerstehen zu können. Silas ist immer ein wenig wie das kleine gallische Dorf von Asterix und Obelix gewesen. In und mit Silas habe ich weiterlernen und vertiefen können, was mir mein Konfirmationspfarrer Martin Reuer schon mit auf den Weg gegeben hat und vorgelebt hat: Authentizität im Glauben und die damit verbundenen Herausforderungen anzunehmen, wohl wissend, sie nicht immer bestehen zu können, es aber immer wieder auf das Neue anzugehen und zu versuchen, weil wir durch die Zusage gestärkt werden, die uns der Beter im Reminiscere-Psalmwort 25, 6 und Judika-Psalmwort 43, 1 vorbetet: „Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit. & Gott, schaffe mir Recht!“

Amen!

Gottesdienst am 12. März 2016 in der Silas Kirche anlässlich des letzten regulären Gottesdienstes an diesem Predigtort