Pfr. Martin Dubberke
Die Heilige Barbara des Oberauer Tunnels | Bild: Martin Dubberke

Vision

Ich halte es mal ganz einfach, denn vor Gott sind wir alle gleich, also: Liebe Geschwister, nur noch wenige Minuten trennen uns davon, diesen Tunnel im wahrsten Sinne des Wortes in Besitz zu nehmen, indem viele von Euch durch ihn hindurchjoggen werden, andere mit dem Radl durchfahren werden oder einfach sich diesen Tunnel zu Fuß zu erschließen werden. Ein besonderes Erlebnis. Ein Erlebnis, von dem wir noch erzählen werden, wenn wir ganz alt sein werden. Ein Erlebnis, auf das wir viele Jahre gewartet haben. Und wer heute durch diesen Tunnel gehen wird, wird es vielleicht auch wie ein Wunder erleben. Und das ist es auch, wenn man sich anschaut, wie Mineure sich durch den Tunnel gebohrt haben und dann die anderen Gewerke hinzugekommen sind, um Licht, Lüftung, die Verschalung, die Straße zu bauen. Es ist ein neuer Weg entstanden. Und ein solcher Weg kann nur entstehen, wenn sich Menschen auf den Weg machen, wenn am Anfang eine Vision steht. Eine solche Vision verleiht Kraft, Ausdauer, Mut, Beharrlichkeit, lässt Rückschläge verkraften. Eine solche Vision lässt das Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Genauso, wie wir das eben in der Apostelgeschichte gehört haben:

Dort hatte Paulus in der Nacht eine Vision. Ein Mazedonier stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Auf diese Vision hin wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, dass uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden.

Paulus hatte eine Vision. Da stand ein Mazedonier vor ihm und bat ihn, nach Mazedonien zu kommen, sich also auf den Weg zu machen, um dort das Evangelium zu verkünden. Und Paulus machte sich sofort auf den Weg. Das ist nun schon rund 2000 Jahr her.

Nun gut, die Forderung, einen Tunnel zu bauen, ist nicht das reine Evangelium, aber wir können davon ganz viel lernen. Als im Mai 2008 – also vor vierzehn Jahren – sich 500 Menschen in Oberau auf den Weg machten und die beiden Bundesstraßen lahmlegten, war das ein starker Auftakt, der Vision Kraft und Ausdruck zu verleihen. Eine Bewegung – lieber Josef Bobinger – war geboren, die VEO, die alles in Bewegung setzte, so dass schließlich am 1. September 2015 endlich Baubeginn war.

Das macht etwas deutlich: Wenn man eine Vision hat, muss man sich auf den Weg machen. Dann gibt es keine andere Wahl. Und eine Vision verbindet Menschen, weil sie ein gemeinsames Ziel haben. Das können wir auch an der Geschichte von Paulus sehen. Wäre Paulus seiner Vision nicht gefolgt, würden wir heute einfach nur bei den Klängen einer Blaskapelle ein Band durchschneiden, glauben, dass alles, was gelaufen und geschehen ist, einzig und allein unser Menschenwerk sei, das dem politischen Geschick des einen oder anderen geschuldet sei, dem baumeisterlichen Können der vielen Menschen, die an und in diesem Tunnel gearbeitet haben.

Doch so ist es nicht. Weil Paulus seiner Vision gefolgt ist und sich auf den Weg gemacht hat, war es den Mineuren wichtig, dass beim Tunnelanstich die Statue der Heiligen Barbara gesegnet wurde. Sie ist die Schutzheilige der Bergleute. Sie symbolisiert, dass es beim Bau eines solchen Werkes auch eines höheren Schutzes bedarf. Sie steht dafür, dass die Macht und die Fähigkeiten des Menschen begrenzt sind und er bei allem Tun auf den Schutz und den Segen Gottes angewiesen ist.

Und auch beim Tunneldurchschlag, dieses großartige Erlebnis, wenn zwei lange Höhlen zum Tunnel werden, wurde mit dem Wort und dem Segen Gottes begleitet. All das, hat seinen guten Grund, weil es so vieles zwischen Himmel und Erde gibt, auf das wir Menschen keinen Einfluss haben, auch wenn wir so mächtig scheinen. Und so, wie der Berg uns Demut lehrt, so lehrt uns erst recht der Weg durch den Berg Demut.

Und heute stehen wir hier vor dem Tunnel, dem Ergebnis einer Vision, die Menschen miteinander verbunden hat, und der von heute an Wege zusammenführen wird, Oberau entlasten wird – und vielleicht komme ich in Zukunft schneller an der Ampel bei der Bushaltestelle über die Straße, um zu meiner kleinen Heilandkirche gelangen.

Und so ist ein Tunnel auch ein Gleichnis dafür, über alle Hindernisse hinweg, immer neu den Weg zum Miteinander zu suchen und zu finden, so wie es uns Jesus Christus gelehrt hat.

Wenn wir jetzt Gott und allen, die daran gearbeitet haben, dass die Vision Gestalt angenommen hat, danken, dürfen heute nicht vergessen, dass mit diesem Tunnel auch Trauer verbunden ist. Und so ist es der Moment, an dem wir an Jan Toth denken und für ihn beten wollen. Jan Toth war ein LKW-Fahrer, der hier sein Leben verloren hat, als er seinen LKW vor Abfahrt auf dem Gelände der Baustelle säubern wollte. Das war am 18. Juli 2019.

Lieber Vater,
in diesem Moment, sind unsere Gedanken bei all denen,
die Jan Toth nahestanden, die ihn liebten,
die seine Familie sind, die ihn auch heute noch vermissen.
Tröste sie. Amen.

Pfr. Martin Dubberke, Predigt zur Eröffnung des Oberauer Tunnels an Christi Himmelfahrt 2022 (26. Mai 2022)

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

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