Pfr. Martin Dubberke

Urlaubslektüre 4 | Hans Fallada – Jeder stirbt für sich allein

Es ist mittlerweile dreißig Jahre her, dass ich das letzte Mal Fallada gelesen habe. Ich wurde auf die Wiederveröffentlichung durch meinen Buchhändler aufmerksam gemacht, der mir erzählte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Fallada gelesen habe. “Fallada, ja, den habe ich früher fast verschlungen”, sage ich: “Er gehörte zu meinen Lieblingsautoren und plötzlich las ich ihn nicht mehr. Eine gute Gelegenheit, ihn mal wieder zu lesen.”

Der Gedanke blieb in einer hinteren Ecke meines Gedächtnisses und saß dort auf einer Wartebank, bis er durch einen externen Impuls wieder hereingerufen würde. Und das geschah ein paar Wochen später in einem Buchgeschäft, in dem ich die Hörbuchfassung entdeckt habe.Das war das letzte Quäntchen, das gefehlt hat. Der Wiederbegegnung mit Fallada stand nichts mehr im Wege.

Heute – also dreißig Jahre später – erlebe ich Fallada vertraut und natürlich ganz anders, was ja nicht verwundert. Die Straßen, in denen der Roman spielt sind mir heute nicht mehr fremd, sondern vertraut, weil ich schon oft genug durch diese Straßen dank Mauerfalls gelaufen bin oder Menschen kenne, die dort wohnen.

Die Geschichte ist bekannt. Ein Ehepaar verliert im zweiten Weltkrieg seinen einzigen Sohn und legt fortan selbstgeschriebene Postkarten in Häusern aus. Immer eine. Doch der erhoffte Schneeballeffekt tritt nicht ein. Am Ende wird das Ehepaar hingerichtet.

Die soeben mit drei Sätzen beschriebene Handlung geht auf eine wahre Geschichte zurück, auf die Hans Fallada 1946 durch Johannes R. Becher aufmerksam gemacht wurde. Fallada schrieb wie ein Getriebener in weniger als vier Wochen diesen Roman, der rund 700 Buchseiten stark wurde. Unvorstellbar.

Die Geschichte des Ehepaar Quangel, kleiner, einfacher Leute beeindruckt nicht nur durch das Berliner Kolorit, sondern durch die unverbogene Ehrlichkeit. Quangel ist Werkmeister, wie auch mein Urgroßvater. Er hat die Eigenschaften, die auch meinem Urgroßvater nachgesagt werden: Streng, gerecht, wortkarg, auf die Arbeit konzentriert, keine Bummelei duldend. Mein Urgroßvater war Sozialdemokrat und wurde von den NAZIs nicht nur verprügelt, sondern auch aus seiner beruflichen Führungsposition herausgedrängt. Der Quangel ist mir also von Anfang an nah.

Wie damals beeindruckt mich Falladas Darstellung und Charakterisierung seiner Protagonisten, so menschlich und bildhaft, dass man das Gefühl hat, im Raum zu stehen und Augenzeuge zu sein.

Das Drama der Quangels ist nicht, dass sie am Ende hingerichtet werden, sondern, dass sie so viele andere Menschen mit in den Tot ziehen. Das Gute wollend, bringen ihre Postkarten über andere Menschen Unglück. Doch im Finale, dem Prozess vor dem Volksgerichtshof, lassen Sie Freisler, der hier nur Feisler heißt, ins Leere laufen, weil sie geständig sind.

Parallel zu dieser Geschichte gibt es eine zweite Geschichte, die eng mit der ersten Geschichte verbunden ist. Frau Kluge, die Briefträgerin, die Quangels die Nachricht vom Tode ihres Sohnes überbracht hat. Auch ihr Leben verändert sich durch den Tod des Otto Quangel. Sie wird sich von einem Sohn lossagen, der zur SS gegangen ist und der andere Sohn wird fallen. Es geht soweit, dass Sie aus der Partei austritt, mit allen Problemen und Verhören. Sie geht aufs Land zu Verwandten, wo Sie ein neues Leben aufbaut, einen neuen Mann kennenlernt und heiratet. Ihr Exmann ist ein Opfer der Postkarten. Sie trifft auf dem Acker auf den ausgebüchsten Sohn des Denunzianten Barkhausen, der am Ende des Romans den Aufbruch und in einer beeindruckenden Szene mit seinem leiblichen Vater auch den Bruch mit dem System und damit die neue Zeit symbolisiert.

Der Roman atmet an Stellen wie dieser die Kraft des Neuanfangs nach 1945. Vor meinem inneren Ohr höre ich Hans Albers mit dem Lied: Und über uns der Himmel aus dem gleichnamigen Spielfilm von 1947.

Ulrich Noethen – nebenbei gesagt – liest diesen Roman in der leider gekürzten Fassung mit der Berliner Schnoddrigkeit aber auch mit der schneidenden Schärfe eines Freislers. Absolut empfehlenswert.

Label: Hörbuch Hamburg

VÖ: 15.07.2011