Pfr. Martin Dubberke
Kerzenritual in der Johanneskirche | Bild: Martin Dubberke

Seid geistlich

Liebe Geschwister, eigentlich wollte ich heute über die verständigende Kraft des Heiligen Geistes predigen. Der Geist, der es schafft, dass Menschen aller Welt sich verstehen, miteinander feiern, das Wort Gottes hören und sich auf den Weg machen, dieses Wort Gottes zu leben und damit die Welt im Sinne Gottes zu gestalten. Der Krieg in der Ukraine und die Kriege an den vielen anderen Orten in dieser Welt erinnern uns daran, wie sehr wir die verständigende Kraft des Heiligen Geistes brauchen, um in Frieden leben zu können.

Aber nun ist am Freitag bei uns in Garmisch-Partenkirchen dieses unfassbare Unglück geschehen, bei dem fünf Menschen ihr Leben verloren haben. Wohl jeder von uns kennt Menschen, die in diesem Zug gesessen haben. Mit einem Male tritt alles andere in den Hintergrund zurück. Viele Menschen mussten mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Viele hatten leichte Verletzungen und viele sind mit einem Schrecken davongekommen. Aber es bleiben die Bilder und die Erinnerungen. Und mit den Bildern meine ich nicht die Fotos, so wie sie nach dem Unglück verschickt worden sind, so wie es eine Klassenkameradin eines meiner Söhne getan hat, die in einem der entgleisten Wagen gesessen hat und wie durch ein Wunder unverletzt aus dem Zug befreit wurde. Es sind die anderen Bilder, die ich meine, die Bilder, die Filme, die die Seele macht und wieder abspielt, wenn es ihr in den Sinn kommt.

Ich denke ganz besonders auch an den Zugführer, der diesen Zug gesteuert hat, dessen Seele besonders viele dieser Filme abgespeichert hat.

Ich denke an die 650 Rettungskräfte, die im Einsatz waren und sind, die die Menschen aus den Zügen geholt haben, die die Schwerverletzten und die Toten geborgen haben. Auch sie haben Bilder gesehen, die sie nie mehr vergessen werden. Und sie haben alle miteinander Großartiges geleistet. Es war, als hätte sie ein Geist miteinander verbunden.

Und ich denke auch an die kleinen bewahrenden Geschichten, die wir kleine Wunder sind, …

  • Wie meine Sekretärin, die ihren Zug am Morgen um eine Minute verpasst hat und deshalb mit dem Auto zur Arbeit gekommen ist, so dass sie zum Feierabend nicht wie sonst diesen Zug genommen hat.
  • Oder ich denke an den ausgefallenen Pfingstgottesdienst, an einer unserer Schulen, wovon mir mein Kollege erzählt hat. Sonst hätten viel mehr Schülerinnen und Schüler im Zug gesessen.

Als ich gestern mit dem Schienenersatzverkehr an der Unglücksstelle vorbeigefahren bin und ich so zum ersten Mal den entgleisten Zug nicht medial, sondern direkt mit eigenen Augen gesehen habe, wurde das alles für mich noch unfassbarer.

Wie oft bin ich schon diese Strecke gefahren, seitdem ich hier wohne? Jeder von uns ist unzählige Male diese Strecke gefahren. Wie wird es sein, wenn wir wieder das erste Mal die Strecke fahren werden, wenn alles geräumt sein wird, die Ursachen geklärt sein werden? Wie lange wird es dauern, bis es wieder scheinbar normal sein wird?

Dieser Freitag hat für viele Menschen ihr Leben verändert. Vier Frauen und wohl auch ein Schüler sind unter den Toten. Für die Familien dieser Menschen, wird nichts mehr sein, wie es war. Zwei der Frauen waren vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen, um das Leben ihrer Kinder und das eigene Leben zu bewahren. Nun haben die Kinder dieser beiden Frauen ihre Mütter verloren. Alles wird anders werden.

Und für alle wird die Frage im Raum stehen: Warum? Und manche werden auch fragen: Warum, lieber Gott?

Ganz ehrlich? Ich weiß auf diese Frage keine Antwort. Und ich glaube auch, dass es auf diese Frage keine Antwort geben kann.

Auch Hiob hat einst diese Frage gestellt. Und er hat mit seinen Freunden um eine Antwort gerungen und genauso auch mit Gott, den er für hart ins Gericht genommen hat, aber eine wirkliche Antwort hat er nie auf seine Frage bekommen. Und dennoch ist er alt und lebenssatt gestorben.

Für mich ist Hiob immer ein Sinnbild dafür gewesen, in seinem Leben zu erkennen, dass nichts, wirklich nichts selbstverständlich ist, und ich mir Selbstverständlichkeit auch nicht verdienen kann.

Von Hiob habe ich gelernt, dass der Mensch eine große Sehnsucht nach dieser Selbstverständlichkeit hat, aber erst lebenssatt werden kann, wenn er lernt, in dieser Unselbstverständlichkeit zu leben.

Mein Leben verändert sich, wenn ich das erkenne. Und es entsteht noch etwas anderes, nämlich Dankbarkeit für alles, was so selbstverständlich scheint.

Und vielleicht ist es genau das, was Paulus in seinem Brief an die Römer gemeint hat, als er schrieb:

Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Denn fleischlich gesinnt sein ist der Tod, doch geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede.

Römer 8, 5-6

Wir sind als Menschen schon ziemlich fleischlich ausgerichtet, auch wenn wir fromm sind. Und wenn ich fleischlich durch selbstverständlich ersetze, bekommt alles eine brennende Aktualität.

Denn die da alles für selbstverständlich halten, die sind fleischlich gesinnt; die aber nichts für selbstverständlich halten, die sind geistlich gesinnt. Denn fleischlich gesinnt sein ist der Tod, doch geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede.

Paulus meint genau diese beiden Haltungen im Leben der Menschen. Wer alles für selbstverständlich nimmt, der wird in dem Moment scheitern, in dem er mit der Unselbstverständlichkeit des Lebens konfrontiert wird. Wer aber nichts für selbstverständlich nimmt, der sein Leben in Gottes Hand legt, den wird er wunderbar aller Not und Traurigkeit erhalten – wie es Georg Neumark in seinem Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ sagt.

Es ist Pfingsten. Eigentlich ein Tag der Freude. Schließlich grüßen wir uns in dieser Zeit mit den Worten „Frohe und gesegnete Pfingsten“. Aber in diesen Tagen will mir das „frohe“ nicht über die Lippen gehen.

Pfingsten steht mit Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt in einer Linie. Ohne den Tod Jesu, ohne seine Auferstehung und der damit verbundenen Hoffnung, ohne das Wissen, dass Jesus durch die Himmelfahrt zur Rechten Gottes sitzt, wäre Pfingsten nicht möglich geworden. Und so ist Pfingsten, mit dem Geschenk des Heiligen Geistes in uns auch der Trost, in dieser Welt mit ihren Schrecknissen zu leben, mit seiner Hilfe unseren Weg im Leben finden und gehen zu können.

Wir haben es vorhin im Evangelium des Johannes gehört, wie Jesus gesagt hat:

Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch.

Johannes 14,18

Wir sind nicht allein, was immer auch sein mag, denn Jesus Christus lässt uns nicht allein. Das ist die Hoffnung, aus der heraus ich lebe. Und diese Hoffnung wünsche ich Euch allen von ganzem Herzen.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke, Predigt am Pfingstsonntag 2022, 5. Juni 2022, über Römer 8, 1-11, Perikopenreihe IV, in der Johanneskirche zu Partenkirchen

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

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