Pfr. Martin Dubberke

Komm in unsere laute Stadt

Bei den Worten der dritten Strophe des Wochenlieds, dass wir gerade gesungen haben, geht mir eine Beobachtung durch den Kopf, die ich diese Woche gemacht habe. Aber zuerst möchte ich noch einmal die angesprochenen Zeilen in Erinnerung rufen:

Komm in unsre laute Stadt,
Herr, mit deines Schweigens
Mitte, dass, wer keinen Mut mehr hat,
sich von dir die Kraft
erbitte für den Weg durch Lärm und Streit
hin zu deiner Ewigkeit. (EG 428, 3)

Diesen Wunsch hatte ich diese Woche, als ich mich für ein paar Tage in einem Krankenhaus an der Osloer Straße befand. Von meinem Zimmer aus konnte ich direkt auf den Ausgang des U-Bahnhofs schauen und beobachten, wie die Menschen aus dem Untergrund strömten. Irgendwie hatte das was von einem Ameisenhaufen, wo aus allen Gängen tausende von Ameisen emsig nach draußen strömen, um ihrer Arbeit nachzugehen. Alle waren wie gehetzt. Die meisten steckten sich erst einmal eine Zigarette an, als sie ans Tageslicht kamen.

Die ganze Ecke war unheimlich laut. Auf der Osloer Straße herrscht irgendwie den ganzen Tag dichter Verkehr, der natürlich nicht ohne Lärm abgeht. Und dicht über den Dächern flogen die großen Flugzeuge, die natürlich nicht so leise waren wie einst die Zeppeline.

Aber nicht nur die Autos und Flugzeuge waren laut, auch die Menschen. Die meisten Menschen rannten einfach los und wirkten von da oben, wo ich das Geschehen aus meinem Fenster beobachten konnte, als würden sie sich auf Schienen bewegen. Und dann gab es Menschen, die sich anschrien und auch schon mal durch die Gegend schubsten. Ich hörte Beleidigungen und Flüche, die ich hier nicht zitieren möchte.

Und ich dachte mir, wie schön ruhig ist es doch in meinem Charlottenburg, wo ich wohne. Aber ist es hier wirklich ruhiger, friedvoller?

Und ich überlegte, wie es mir so geht, wenn ich am S-Bahnhof auf meinen Zug warte, sich jemand neben mich setzt und eine Zigarette anzündet, obwohl auf dem Bahnhof das Rauchen verboten ist und mich nötigt, sein Gift einzuatmen. Wenn ich ihn bitte, die Zigarette auszumachen oder sich zumindest irgendwo damit hinzubegeben, wo ich davon nicht gestört werde, versteht er in der Regel nicht, dass er mit seiner Zigarette eine Körperverletzung begeht.

Oder ein anderes Beispiel: Sie stehen im Laden an einer Schlange an und warten. Ihnen tun schon die Beine weh und Sie können kaum noch stehen und dann drängelt sich jemand vor. Da wollen Sie ihn doch am liebsten mit dem Stock erschlagen oder mit dem Rollator über den Haufen fahren.

Was ich damit sagen will, ist ganz einfach: Wenn uns jemand zu nahe kommt, wenn uns jemand nervt, schalten wir auf Gegenangriff.

Die alttestamentliche Versicherungsformel „Auge um Auge“ wird dann schnell zur Vergeltungsformel.

Eine andere Geschichte. Ich war kürzlich mit meiner Familie im Britzer Garten. Dort saß ich mit meiner Frau an einem Wasserspielplatz auf der Bank, während unsere Jungs sich im kühlen Nass erfrischten. Und plötzlich steckt sich eine Mutter, die neben uns sitzt, eine Zigarette an. Auf dem ganzen Gelände – und auf Spielplätzen grundsätzlich – ist das Rauchen verboten. Höflich bat ich darum, die Zigarette auszumachen und verwies darauf, dass es unabhängig davon, dass es mich als Nichtraucher stören würde, auch verboten wäre. Die andere Mutter war nicht so einsichtig, dass sie die Zigarette sofort ausmachte, sondern es kam eine aggressive Note in das Ganze hinein.

Am liebsten hätte ich ihr ja die Zigarette aus dem Mund genommen und selbst ausgemacht. Aber wir wollen uns nicht ausmalen, was dann passiert wäre.

Ich könnte jetzt noch viele andere Beispiele nennen und ich wette, dass Sie mir nach dem Gottesdienst beim Kaffeetrinken ebenfalls viele solcher Geschichten erzählen werden.

Aber warum erzähle ich das alles? Genau: Weil all diese kleinen Alltagsgeschichten uns daran erinnern, wie verdammt menschlich es doch zwischen uns zugeht und wie viel urzeitliches noch in uns steckt, wenn es darum geht, unser Revier oder unsere Interessen zu verteidigen. Und wie schnell wir aus dem Affekt heraus vergessen, dass wir doch als Christinnen und Christen eigentlich angetreten sind, uns anders zu verhalten. Wie haben wir doch vorhin mit Luthers Worten bekannt:

…alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen habe mit Gedanken, Worten und Werken…

Eijeijei, haben wir vorhin wirklich an alle diese Gedanken gedacht, die wir da so in den vergangenen Tagen gedacht haben?

Nehmen wir mal unseren alten Freund und Bruder Paulus, der hat ja seinen Römern etwas ganz Nettes geschrieben:

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.  Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln«. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Römer 12, 17-21)

Das liest sich so leicht und ist doch so verdammt schwierig umzusetzen, weil wir uns mit unseren eigenen Befindlichkeiten immer wieder selbst und damit anderen im Wege stehen. Wenn uns jemand schräg kommt, dann wollen wir ihm schon ganz gerne eine überbraten, entweder mit Worten oder Taten, aber zumindest in Gedanken. Ich erinnere hier nur an die berühmte Stelle aus der heiligen Evangelienlesung aus Lukas 6:

Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Ich sage es mal so: Wir wissen nie, warum sich der Mann in unserer Schlange ungefragt vorgedrängelt hat. Wir denken zuerst, dass jener dreist und schlecht erzogen ist. Aber vielleicht ist er nur spät dran, weil seine Frau krank ist und er sie versorgt und sich nun nur deshalb vordrängelt, weil er unbedingt noch seine S-Bahn bekommen will, um pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Wenn wir ihn anblaffen, werden wir es nie erfahren, weil er gehetzt und innerlich schon auf Dampframme eingestellt ist. Wenn wir stattdessen mit einem freundlichen Lächeln vielleicht sagen: „Na, Sie haben es ja heute eilig! Dafür lassen Sie mich dann das nächste Mal vor“,  entspricht wahrscheinlich den feurigen Kohlen, von den Paulus spricht.

Weil wir eben fehlbare Menschen sind, die nicht alle Aspekte erfassen können, hat uns Gott das Ding mit der Rache abgenommen. Ich finde, das ist eine ungeheure Entlastung für uns. Ich muss mich darum nicht mehr selbst kümmern. Gott wird das schon machen.

Will ich dem anderen jetzt aus Rache eins überbügeln, kühle ich nur mein Mütchen und habe Böses mit Bösem vergolten. Aber das ist weder das „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ noch das Gebot, Gott mit all meiner Kraft, all meinen Gedanken und von ganzem Herzen und ganzer Seele zu lieben.

Habe ich dem anderen, weil er mich geärgert hat, eins übergebraten, dann habe einem anderen Geschöpf Gottes ein Leid getan. Auch der andere Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen – so wie ich. Und wenn ich dem etwas antue, dann tue ich auch Gott etwas an.

Und was wäre damit gewonnen? Auch ich müsste damit rechnen, dass mich Gottes Vergeltung trifft.

Also, die Rache und Vergeltung bei Gott zu belassen, ist eine gute Glaubensübung, die wir in unseren Zeiten nicht genug üben und leben können.

Gott entlastet uns damit. Wenn Rache und Vergeltung bei ihm – und nur bei ihm – liegen, ist das zu unserem Besten. Denn wenn wir als Rächer und Vergelter auftreten, dann vergelten wir nur Böses mit Bösem und dann hat das Böse nie ein Ende. Und je mehr Menschen das verstehen, desto mehr Friede wird in unsere Welt einkehren.

Und so ist der Weg bis zum „Fried ohn Unterlass“ leider noch ein weiter Weg. Drum lasst uns möglichst viele auf diesen Weg mitnehmen. Überraschen wir die, die uns ärgern oder Böses wollen, mit Gutem und Nächstenliebe.

Amen.

Diese Predigt wurde am 12. Juli 2014 in der Silas-Kirche in Berlin-Schöneberg gehalten.