Pfr. Martin Dubberke
Silvesterhimmel | Bild: Martin Dubberke

Füll uns mit deinem Geiste

Nachdem ich gestern auf unserem schönen Partenkirchner Friedhof meine letzte Trauerfeier in diesem Jahr gehalten hatte, der Sarg in die Gruft versenkt war, ging ich wieder zurück zur Trauerhalle und auf dem Weg dorthin, dachte ich so bei mir, dass der Altjahrsabend eigentlich auch so eine Art Trauerfeier ist.

Tragen wir nicht heute das Jahr 2020 zu Grabe? Wie ist das denn so, wenn wir jemanden auf dem Weg zu seiner letzten Ruhe begleiten? Wir reden über den Verstorbenen. Wir erinnern uns an ihn. Wir tauschen einander Anekdoten aus und kommen dann nach dem zweiten oder dritten Bier auch so langsam auf seine unangenehmen Eigenschaften zu sprechen, die am Grab selbst aber keiner so offen ausspricht, und wenn ich als Pfarrer erzählen würde, dass der Tote ein Schuft war, würde ich vielleicht dem einen oder anderen aus der Seele sprechen, aber ich würde doch ein wenig gegen die Etikette verstoßen.

Wie ist das also nun, wenn ich quasi heute an der Gruft stehe, in der wir das alte Jahr heute beisetzen werde?

Werden wir traurig sein, dass dieses Jahr nun vorüber ist? Oder sind wir in so einer Stimmung, in der wir rufen: „Das Jahr 2020 ist tot. Es lebe das Jahr 2021!“

Würde ich dem gerecht werden, wenn ich nun am Grab des Jahres 2020 stehe und sagen würde: Du warst ein mieser, elender Schuft, ein Aas, ein Massenmörder wie schon lange nicht mehr. Du warst ein Angstmacher, Lebens- und Existenzzerstörer. Wir werden Dich nicht vermissen, auch wenn Du noch lange unter uns herumgeistern wirst.

Nein, ich glaube, das würde auch unserer Seele nicht guttun, denn das Jahr 2020 war nicht nur das Jahr, das uns die Pandemie gebracht hat. Ja, es war ein Jahr, das uns ganz schon an unsere Grenzen geführt hat. Menschen sind gestorben, die uns etwas bedeutet haben und die heute vielleicht noch leben würden. Wir haben Menschen nicht gesehen, die wir gerne gesehen und in die Arme genommen hätte. Ich denke nur an meine gescheiterten Besuchsplanungen in meiner alten Heimat Berlin.

Aber, ich muss gar nicht so weit gehen. Viele haben ihre Kinder und Enkel nicht gesehen, die z.B. in München wohnen.

Wir sind sehr sensibel geworden, was unsere Gesundheit und auch die eigene Sicherheit betrifft.

In unsere Leben sind auch neue Theorien getreten. Hat man vorher über Verschwörungstheorien und die Verschwörungstheoretiker geschmunzelt und solche Menschen für charmante Spinner gehalten, hat sich der Blick auf sie heute geändert.

Mir gehen noch einmal die ersten Strophen des Liedes „Das Jahr geht still zu Ende“ von Eleonore von Reuß durch den Kopf. Sie schrieb dieses Lied, nachdem sie Weihnachten die Nachricht erhalten hatte, dass ihre Freundin, die Schriftstellerin Marie Nathusius, verstorben sei. Ihre Trauer und Fassungslosigkeit verarbeitete sie in diesem Gedicht, das wir heute in unserem Gesangbuch haben und zu der Melodie „Befiehl du deine Wege“ singen. Eleonore Reuß hat in diesem Gedicht Motive aus Psalm 126 verarbeitet und sie drückt in dem Text ihre Hoffnung auf ein ewiges Leben aus:

1) Das Jahr geht still zu Ende,
nun sei auch still, mein Herz.
In Gottes treue Hände
leg ich nun Freud und Schmerz
und was dies Jahr umschlossen,
was Gott der Herr nur weiß,
die Tränen, die geflossen,
die Wunden brennend heiß.

2) Warum es so viel Leiden,
so kurzes Glück nur gibt?
Warum denn immer scheiden,
wo wir so sehr geliebt?
So manches Aug gebrochen
und mancher Mund nun stumm
der erst noch hold gesprochen:
du armes Herz, warum? 

Wir haben in diesem Jahr Menschen verloren, Angehörige, Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Menschen aus unserer Mitte, die gestorben sind und nicht nur, weil sie Corona hatten. Sie sind gestorben. Am Ende dieses Jahres denken wir auch an die, mit denen wir nun nicht mehr gemeinsam feiern können, weil sie in das ewige Leben umgezogen sind. Angesichts ihres Todes können wir heute Abend, wenn wir auf die Glocken warten, die das neue Jahr einläuten werden, uns Gedanken über unser eigenes Leben und unser eigenes Verhältnis zu Gott unserem Schöpfer machen. Wir können darüber nachdenken, was wir angesichts unserer eigenen Vergänglichkeit vom neuen Jahr an anders machen wollen oder gar müssen.

Das Jahr geht still zu Ende. Keine Raketen, keine Böller und Kracher, keine Heuler, kein Feuerwerk.  In diesem Jahr werden wir nicht dem alten heidnischen Brauch frönen, die bösen Geister mit Krachern und schönen Blitzen zu vertreiben. Heute Nacht werden die Kirchenglocken läuten und wir werden sie hören. Die Kirchenglocken werden uns daran erinnern, dass wir unser Leben nicht die Hände der bösen Geister legen, sondern in die Hände Gottes, in die treuen Hände Gottes.

Und damit bin ich beim zweiten Lied, das mich heute begleitet, bei Jochen Klepper und seinem Gedicht „Der du die Zeit in deinen Händen hast“. Er schrieb dieses Gedicht im Dezember 1937, nachdem er von den Nazis ein Schreibverbot erhalten hatte, das ihm seine Existenzgrundlage entzog. Mit einer Sondergenehmigen konnte er noch 1938 dieses Gedicht in seinem Gedichtband „Kyrie“ – Herr – herausgeben:

1) Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.

4) Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist.
Du aber bleibest, der du bist,
in Jahren ohne Ende.
Wir fahren hin durch deinen Zorn,
und doch strömt deiner Gnade Born
in unsre leeren Hände.

6) Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.

Jochen Klepper hatte eine Last ohne Ende zu tragen und sein Glaube war so stark, dass er es in diese Worte fassen konnte:

Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.

Oh, ja, wäre das nicht der eigentliche Wunsch für das neue Jahr, dass die Last, die dieses Jahr, das wir heute nun Grabe tragen, sich in Segen wandeln möge? Wir alle haben diese besondere Last dieses besonderen Jahres zu spüren bekommen. Wir haben aber auch spüren können, dass etwas im System nicht stimmt. Wir haben auch gespürt und erfahren, dass die Selbstverständlich vorbei ist. Wir habe auf eine ganz eigene Art erfahren dürfen, dass die Zeit nicht in unseren Händen steht, sondern in den Händen Gottes. Und die Frage ist nun, was wir, was jeder Einzelne von uns aus dieser Erkenntnis machen wird, wohin der Weg gehen wird.

Aber auch dafür hat Jochen Klepper Worte gefunden:

Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.

Und Klepper weiß wonach er sich sehnt und was er auf diesem Wege braucht:

Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.

Und schließlich klingt heute Abend in uns auch der bekannteste Text von Dietrich Bonhoeffer nach. „Von guten Mächten“ – ein Text, den er in vollkommener Trennung von seinen Eltern, seiner Familie, seiner Verlobten im Gefängnis geschrieben hat, wo er eingesperrt war, weil er das tat, was sein Glaube, unser Glaube, logisch von ihm forderte.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

Laß warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so laß uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Ja, das alte Jahr will noch unsere Herzen quälen. Die Angst vor der Ansteckung, die Angst jemanden zu verlieren, jemanden, den wir jetzt nicht sehen können oder konnten, nicht wiederzusehen. Wie oft habe ich in diesen Tagen und Wochen den fragenden Satz gehört: „Aber es könnte doch das letzte Weihnachten sein…“

Bonhoeffer ist so tief in seinem Glauben verwurzelt und geerdet, dass er auch die Bereitschaft in sich trägt, den bitteren Kelch des Leids ohne Zittern dankbar aus der guten und geliebten Hand Gottes zu nehmen. So sehr vertraut er Gott, so groß ist seine Demut, aber auch seine Zuversicht, seine Hoffnung. Er dichtet nicht, „führ, wenn der Führer will, wieder uns zusammen“, sondern er meint „guter Gott, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.“ Darin macht er sich nicht von den bösen Mächten abhängig, sondern vertraut darauf, dass Gott für ihn und die Seinen das Richtige tun wird. Er macht sich also nicht abhängig vom Bösen, sondern vom Guten. Machen wir uns heute nicht viel zu sehr abhängig von einem Virus, statt von Gott? Was hat uns dieses Jahr über unser Gottvertrauen erzählt und gelehrt?

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

Und gleich nach der Predigt werden wir die Melodie zu einem Paul-Gerhardt-Lied hören „Nun lasst uns gehen und treten“. Er schrieb dieses Gedicht 1653 und wir können aus diesen Zeilen noch die Schrecken hören, die Paul Gerhardt dreißig Jahre seines Lebens begleitet und geprägt haben. Der Dreißigjährige Krieg war 1653 gerade mal ein halbes Jahrzehnt vorüber:

1) Nun lasst uns gehen und treten / mit Singen und mit Beten
zum Herrn, der unserm Leben / bis hierher Kraft gegeben.

2) Wir gehen dahin und wandern / von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen / vom alten bis zum neuen

3) durch so viel Angst und Plagen, / durch Zittern und durch Zagen,
durch Krieg und große Schrecken, / die alle Welt bedecken.

9) Gib mir und allen denen, / die sich von Herzen sehnen
nach dir und deiner Hulde, / ein Herz, das sich gedulde.

12) Sei der Verlassnen Vater, / der Irrenden Berater,
der Unversorgten Gabe, / der Armen Gut und Habe.

14) Und endlich, was das meiste, / füll uns mit deinem Geiste,
der uns hier herrlich ziere / und dort zum Himmel führe.

Die vorletzte Strophe, die 14., löst bei mir geradezu Gänsehaut aus, weil Paul Gerhardt es genau auf den Punkt bringt, was die Menschheit braucht:

Und endlich, was das meiste,
füll uns mit deinem Geiste,
der uns hier herrlich ziere
und dort zum Himmel führe.

Es geht genau darum! Es geht darum, um den Geist Gottes zu beten, dass er einen erfülle, weil es der Geist Gottes ist, der uns führen sollte und nicht ein Virus. Und genau das wird durch das Virus deutlich, wie sehr wir uns von einem Virus führen lassen. Das Virus macht aber auf der anderen Seite deutlich, wo wir uns überall vom Geist Gottes entfernt haben.

Auch darüber können wir heute Abend, wenn wir in kleiner Runde um unsere Esstische herum sitzen werden, nachdenken und miteinander ins Gespräch kommen. Was ändert sich, wie ändert sich unsere Perspektive, wenn wir mal nicht vom Virus, sondern vom Geist Gottes her über diese Welt und über uns und unser Handeln in dieser Welt nachdenken? Könnte es so verrückt sein, dass uns ausgerechnet, dieses Virus wieder an den Geist Gottes erinnert?

Und damit komme ich zum Predigttext. Hören wir ihn uns einmal an:

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.
2. Mose 13,20-22

Diese Wolkensäule gibt es noch immer. Gott geht noch immer des Tags in einer Wolkensäule und des Nachts in einer Feuersäule, damit wir Tag und Nacht auf dem richtigen Weg gehen können.

Das hat sich bis zum heutigen Tage nicht geändert. Das Problem ist nur, dass die Menschen seit den Tagen des Genusses der verbotenen Frucht im Garten Eden, so eine ganz eigene Vorstellung vom Leben haben, nämlich die, es besser zu wissen als Gott. Das ist das größte Problem in dieser Welt, weil diese Vorstellung um ein Vielfaches todbringender ist als das Virus.

Also, da uns heute Nacht kein Feuerwerk von der Feuersäule Gottes ablenken kann, ist dieser Abend, diese Nacht, das neue Jahr, eine hervorragende Gelegenheit, seinen Weg wieder an der Feuer- und Wolkensäule Gottes zu orientieren.

Und endlich, was das meiste,
füll uns mit deinem Geiste,
der uns hier herrlich ziere
und dort zum Himmel führe.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfr. Martin Dubberke, Predigt am Altjahrsabend 31. Dezember 2020 über 2. Mose 13, 20-22, Perikopenreihe III in der Johanneskirche in Partenkirchen