Pfr. Martin Dubberke

Früher war alles besser! – Wirklich?

Ich gestehe, dass mich der Predigttext dieses Mal in besonderer Weise bewegt hat. Schon die ersten Zeilen stimmten mich sehr nachdenklich:

Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.
Lukas 21, 25-26

Früher schauten die Menschen mehr an den Himmel, wenn es um die Frage des Untergehens oder die Gefahr eines Weltuntergangs ging. Die Zeichen des Himmels und der Naturgewalten standen für die alles bedrohende Gefahr, das Ende all dessen, was man kannte, eben der totale Untergang. Heute ist das anders. Wir haben nicht nur die Zeitung oder das gute alte Radio, sondern auch Fernsehen und nicht zu vergessen, das allgegenwärtige Internet.

Sie ahnen schon, dass das heute vielleicht kein so gefühliger Adventsgottesdienst werden könnte, sondern eher harte Kost. Niemand hat gesagt, dass Advent nur romantisch ist. Das ist mehr so eine mediale Erfindung, hinter der die Sehnsucht nach einer heilen, ja einer heiligen Welt steht. Doch der Advent hat nicht umsonst das passionierte Violett als Farbe, das Violett, dass für die Buße, für die Umkehr steht.

Wir stehen zwar am Anfang des neuen Kirchenjahres aber zugleich auch am Ende des Kalenderjahres. Buße, Umkehr, Neuausrichtung bedeutet aber auch den Blick zurück, um zu sehen, wo man vom Weg abgekommen ist. So gesehen ist der Buß- und Bettag, der unmittelbar vor dem letzten Sonntag des Kirchenjahrs liegt, gewissermaßen auch ein Doppelpunkt, der deutlich macht, was im Advent von uns erwartet wird.

Also, kommen wir wieder zurück zum Weltuntergang. Ich habe, als ich mich auf diese Predigt vorbereitet habe, mal nachgeschaut, ob ich denn schon mal über diesen Text aus dem Lukas-Evangelium gepredigt habe. Und, ja, ich wurde fündig. Ich habe zum letzten Mal am 7. Dezember 2002 über diese Perikope gepredigt, also am 2. Advent vor siebzehn Jahren. Das war schon eine spannende Begegnung mit einer so alten Predigt, die – ja – eine erschreckende Begegnung mit der Welt vor nicht ganz zwei Jahrzehnten war und mir deutlich gemacht hat, wie lange uns eigentlich schon diese Zeichen an Sonne und Mond und Sternen von uns gesehen werden und wie lange schon auf Erden den Völkern bange ist, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und wie sehr die Menschen in Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde, leben; denn die Kräfte der Himmel sind ins Wanken gekommen.

Ich lese mal aus dieser alten Predigt:

Sind wir dem Untergang geweiht? Sind wir in unserer Zeit dem Kommen des Menschensohnes näher als in jeder anderen Zeit zuvor? Im Evangelium für heute, das auch gleichzeitig der Predigttext ist, heißt es:

Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.

Der tägliche Blick in die Nachrichten, der tägliche Blick in die Zeitungen lässt immer öfter die Frage in mir hochkommen: Wie lange noch? Sind das die Zeichen, von denen Lukas spricht? Mir wird bange um Gottes Schöpfung und um uns, wenn ich die Bilder vor der galizischen Küste sehe. Wie die Menschen dort verzweifelt kämpfen. … In Furcht und Erwartung schaue ich auf das Ende dieses Jahres und warte darauf, daß der Krieg gegen den Irak beginnt. Es ist nur die Frage, ob kurz vor Weihnachten oder um den Jahreswechsel.

Ich bin bange darüber, daß ich erleben werde, wie die Kräfte des Himmels ins Wanken geraten. Ich muß nur die Überschriften in einigen deutschen Tageszeitungen von heute lesen:

Die Welt

  • Schily: Terrorgefahr so groß wie nie seit dem 11. September
  • Blutige Nacht im Flüchtlingslager

Berliner Morgenpost

  • Alltägliche Gewalt
  • UN-Mitarbeiter in Gaza getötet

Süddeutsche Zeitung

  • Aus dem Wrack tritt Öl aus
  • Kassenärzte: Showdown im Gesundheitswesen

Frankfurter Rundschau

  • Die Waffenlobby frohlockt über explodierende Kosten für Kontrollen

TAZ

  • Tote bei McDonalds

Mir scheint, eine Ordnung zusammenzubrechen. Und ich erlebe mich dabei, wie ich denke: „War früher nicht alles besser?“ – Es war nicht wirklich besser. Da war Korea. Da war Vietnam. Da war der Kalte Krieg u.v.a.m. Es war nicht wirklich besser, aber es war weiter weg von uns. Nach dem letzten Krieg in Deutschland, dem Holocaust schienen wir auf einem Weg in eine bessere Welt zu sein, der 1989 mit dem Ende des Kalten Krieges in einen anhaltenden Friedensweg übergehen sollte. Aber es schien nur so.

Und ich habe den Eindruck gewonnen, daß wir Menschen es nicht aushalten können, wenn es uns gut geht. Daß wir alles zerstören müssen, was schön und erhaben ist.

Mir wird bange und ich blicke mit Furcht in die Zukunft. Ich erlebe, wie ich in meinem Leben immer kürzer plane und fühle.

Bis hierher erst einmal die alte Predigt. Was haben wir in den vergangen fast zwei Jahrzehnten daraus gelernt? Auf den ersten Blick scheinbar nichts. Ich habe das Gefühl, dass die Zeichen der Zeit nicht wirklich erkannt worden sind und noch immer nicht erkannt werden. Die Welt scheint mehr aus den Fugen geraten zu sein. All das erinnert mich ein wenig an einen alten und sehr mutigen Film von 1938: „Tanz auf dem Vulkan“ – ein Film mit Gustaf Gründgens. Der Tanz auf dem Vulkan ist der Tanz auf einem schmalen Grat, bei dem ich Gefahr laufe, in den Vulkan zu fallen und vollständig vernichtet zu werden.

Wurde das Leben vor dreißig Jahren noch zwischen den beiden großen Blöcken Ost und West polarisiert, sind es heute lauter einzelne Menschen und Parteien, die polarisieren, die spalten.

Apokalypse? Nein! Advent. Und solange wir noch Advent feiern können, ist es nicht zu spät. Advent bedeutet, dass wir noch immer umkehren können.

Und so bewegt mich die Frage von Jesaja:

Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!

Ist doch ganz spannend, dass uns diese Frage schon seit mehreren tausend Jahren bewegt. Diese Frage ist zeitlos und unbedingt aktuell. Und da reden wir Christinnen und Christen immer über die Gottvergessenheit der Menschen. Und das Wort Gottesfurcht traut sich kaum noch einer in den Mund zu nehmen. Aber ist es nicht so? Haben wir denn noch Furcht vor Gott?

Fürchten wir noch wirklich, dass uns der liebe Gott eins um die Ohren haut, wenn wir seine Wege verlassen und ihm gegenüber gleichgültig – also verstockten Herzens – sind?

Ich zitiere noch einmal ein kleines Stück aus meiner alten Predigt:

Wenn wir ehrlich sind, können wir uns doch auch nicht so sicher in unsrer Welt fühlen. Seit dem 11. September sowieso nicht, und die Überschwemmungen in diesem Sommer nicht nur in Deutschland lassen uns erahnen, was an Katastrophen in Zukunft bevorsteht, unter anderem durch menschengemachte Klimaveränderungen. Umdenken, anders handeln ist längst nötig.

Im Zentrum steht also das Wort Jesu. Dieses ist unvergänglich. Dieses ist die Sicherheit, die wir in unserem Leben haben. Dieses Wort leitet uns, ist Richtschnur all unseren Handelns. Ich weiß, daß diese Welt einmal vergehen wird. Das ist so. Auch Menschen sterben. Alles in Gottes Schöpfung kommt und geht, weil das der Lauf der Schöpfung ist. Ich weiß aber auch, daß Menschen vor ihrer Zeit sterben, weil sie getötet, gemordet, gefoltert werden. Und so ist es auch mit unserer Welt. Sie droht vor ihrer Zeit zu vergehen, weil wir Menschen sie mit Kriegen und Umweltkatastrophen überziehen. Diese Katastrophen sind nicht gottgewollt und gottgemacht, sondern menschengemacht, geboren aus dem Egoismus.

Und dann schaue ich mir mit wachen Augen unsere Welt heute im Jahr 2019 an und denke daran, dass da draußen an unserer Kirche die Plakette mit dem Grünen Gockel hängt. Dann denke ich daran, wie seit 2018 die Jugend plötzlich aufgestanden ist, weil sie mehr als alle anderen die Zeichen gesehen hat und uns alle, die Politikerinnen und Politiker und jeden einzelnen von uns Freitag für Freitag zur Umkehr auffordert. Und dennoch gibt es da die Verstockten, die Leugner, die Verräter an der Schöpfung Gottes, die nicht Gott fürchten, sondern um ihren Gewinn. Doch welchen Preis hat solcher Gewinn?

Die Antwort darauf finden wir auch bei Lukas, und zwar im 12 Kapitel, die Verse 14 bis 21:

Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Der reiche Kornbauer

16 Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Land hatte gut getragen. 17 Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. 18 Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Güter 19 und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! 20 Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Und wem wird dann gehören, was du bereitet hast? 21 So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.

Bleibt noch immer die Jesaja-Frage im Raum stehen, warum uns Gott von seinen Wegen abirren lässt und unser Herz verstockt? Gott ist ja unser aller Vater. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen so ergangen ist, aber ich kann mich noch ganz gut daran erinnern, dass mein Vater von Zeit zu Zeit, wenn man glaubte, es besser zu wissen, den schönen Satz auf der Zunge hatte: „Junge, du wirst schon sehen, was du davon hast.“ – Vielleicht müssen wir in dieser Welt des immer noch allzu Selbstverständlichen spüren, dass es ohne ihn nicht geht. Gleichzeitig spricht daraus ein nahezu nicht zu erschütterndes Verhältnis Gottes zu uns als seine Kreatur.

Vor siebzehn Jahren habe ich in meiner Predigt die Frage gestellt und mich mit einer Antwort versucht:

Doch wie komme ich, wie kommen wir aus dieser – ja – Falle heraus? Ein erster Schritt könnte sein, die eigene Coolness aufzugeben und die eigene Angst beim Namen zu nennen, sie offen auszusprechen.

Wenn wir unsere Angst offen aussprechen, hat sie einen Teil ihrer Macht über uns verloren. Mit der Sicherheit des Wortes Gottes, können, ja müssen wir die Dinge beim Namen nennen. Dann müssen wir auf die Straße gehen. Dann müssen wir mit unseren Gebeten und unserem Handeln die Verantwortlichen, die Regierenden in ihre Schranken verweisen. Sie sind von uns Beauftragte Stellvertreter. Sie sind für uns da und nicht wir für sie. Sie sind unsere obersten Dienstleister, unsere Diener. Sie dienen und haben uns zu dienen und nicht wir ihnen.

Wenn wir die Dinge dann beim Namen nennen und man uns den Mund verbietet, sei es nun ein Präsident, ein Kanzler oder Bischof, dann wissen wir, wie groß seine Angst sein muß, wie sehr er um seine Machtlosigkeit wissen muß, die Dinge noch drehen und wenden zu können. Dann braucht er entweder unsere Hilfe oder unser klares Wort, etwas zu tun, was er kann.

Wie lautete der Wahlspruch der drei Musketiere? Einer für alle und alle für einen. Wir alle sind ein Leib und dieser Leib hat viele Glieder. Wenn ein Glied nicht funktioniert, leidet der ganze Leib. Unser Leib leidet, weil viele seiner Glieder nicht funktionieren. Jedes Glied glaubt, sein eigenes Ding machen zu können, sein eigener Leib zu sein. Doch dem ist nicht so. Ganz im Gegenteil. Wenn sich die Glieder eines Leibes so verhalten wie sie sich jetzt verhalten, dann massakriert sich dieser Leib allmählich selber. Das aber ist nicht das, wofür Jesus gestorben ist.

Und heute im Jahr 2019? Heute spricht die Jugend ihre Angst aus. Sie geht auf die Straßen und Plätze dieser Welt und macht uns allen Druck. Sie drängen uns alle zur Umkehr. Sie machen deutlich, auf wessen Zukunft wir leben. Sie zeigen den Mächtigen die Grenzen auf – millionenfach.

An diesem Zweiten Advent wird uns eine ganze besondere Frage gestellt, nämlich die Bekenntnisfrage. Und die Bekenntnisfrage ist nicht allein das Aufsagen oder Beten des Glaubensbekenntnisses, sondern das mutige Handeln danach. Das Bekenntnis gewinnt erst im Handeln Gestalt und Wirkung. Bekennen bedeutet, offenherzig auf dem Weg Gottes zu gehen.

Und genau deshalb Jesus den Verzagten unter uns das Gleichnis vom Feigenbaum erzählt:

Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass jetzt der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.

Es gibt für alles ein Zeichen. Lasst uns die Zeichen der Zeit erkennen und mit dem Worte Gottes richtig deuten und dann mit Hilfe des Wortes Gottes richtig handeln, damit wir noch lange singen können:

Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

In diesem Sinne sage ich: Amen! So soll es sein.


Predigt am 2. Advent 2019, 8. Dezember 2019, in der Johanneskirche in Partenkirchen über Lukas 21, 25-33, Perikopenreihe II