Pfr. Martin Dubberke

Erntedank III

Heute feiern wir miteinander Erntedank. Für viele ist das nach Weihnachten und Ostern der schönste Feiertag im ganzen Jahr, weil es dann einen Erntealtar gibt, der mit den Früchten des Feldes und zuweilen auch den Früchten des Supermarktes geschmückt ist.  Alles sieht dann viel schöner aus, als bei all den anderen Gottesdiensten.

Der Erntedank ist schon etwas ganz Besonderes, weil er deutlich macht, wie sehr wir Menschen von den Früchten des Feldes abhängig sind. Es ist eben nicht so, dass man nur in den Supermarkt geht, sich den Wagen mit leckeren Dingen vollpackt, an die Kasse geht und dann alles irgendwie nach Hause bringt oder so, wie hier im Haus, sich an den gedeckten Tisch setzt. Es ist ein langer Weg von dem kleinen Samen, der in die Erde gegeben wird und am Ende ein Brot, ein Nudelgericht oder ein leckerer Eintopf, eine wunderbare Kürbissuppe oder Kuchen wird.

Und all das geht nicht einfach so, weil der Bauer etwas anpflanzt und pflegt. Es braucht den Boden, der sein Bestes in die Pflanze gibt und die Sonne in Zusammenarbeit mit dem Regen. Und wenn dann am Ende eine wunderbare Ernte steht, können wir Gott dafür dankbar sein.

Aber nicht an allen Ecken und Enden der Welt gibt so gute Ernten, dass es reicht, um die Menschen dort satt zu machen. Doch was bedeutet es, dass manche Menschen satt werden und manche Menschen hungern?

Ich denke, dass das jetzt der richtige Moment ist, den Predigttext aus Jesaja 58 vorzulesen:

7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.

9 Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest,

10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.

11 Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.

12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

Jesaja 58, 7-12

Heißt das nicht: Brich mit dem Hungrigen dein Brot!

Ich finde die Einleitung zu der Aufforderung, mit dem Hungrigen sein Brot zu brechen genial. „Heißt das nicht“ – das ist doch klasse. Diese drei kleinen Worte, die nicht mit einem Fragezeichen, sondern mit einem Doppelpunkt versehen sind, sagen nichts Anderes, als: Du kennst doch die Lösung, mit der du den Hunger des anderen beenden kannst: Brich mit ihm das Brot! Du hast doch Brot, das du brechen und damit teilen kannst. Keiner muss hungern.

Und gleichzeitig zeigt Jesaja die Folgen des Hungers auf: Elend, Obdachlosigkeit, keine Kleidung.

Wenn das mit der Ernte nicht funktioniert, dann gibt es keinen Verdienst. Ernte ich nichts, kann ich nichts verkaufen. Verkaufe ich nichts, habe ich kein Geld. Habe ich kein Geld, kann ich mir nichts zu essen kaufen. Kann ich mir keine Wohnung leisten. Kann ich mir keine Kleidung leisten. Dann ist auch die seelische Not ganz groß. Nicht nur der Leib kann hungern, auch die Seele.

Alles gehört zusammen.

Doch warum soll ich mein Brot mit einem Hungerleider, einem Obdachlosen, einem Fremdling, einem Flüchtling teilen? Was geht mich seine Sorge, seine Seele, seine Not an? Was interessiert mich der andere? Der kann mir doch das wegnehmen, was ich habe. Und dann habe ich am Ende weniger…

Auch hier erinnert Jesaja uns an etwas, was wir gerne mal vergessen:

Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

Aber Entschuldigung, wie kann es sein, dass jener Obdachlose, jener Fremdling, jener Flüchtling mein Fleisch und Blut ist?

Ganz einfach. Jesaja erinnert uns daran, dass wir von Gott geschaffen worden sind. Damit sind alle Menschen, egal woher sie kommen, wie sie aussehen, welche Sprache sie sprechen von einem Fleisch, von einem Blut. Also, sind alle Menschen weltweit miteinander Geschwister. Wir sind eine große Familie, die aufeinander angewiesen ist.

Und Hand aufs Herz, liebe Gemeinde: Leiden wir nicht, wenn es unserem Bruder oder unserer Schwester schlecht geht?

Ja, das tun wir – hoffentlich. Und wenn das so ist, werden wir dem anderen helfen: Das Brot mit ihm brechen, ihn in unser Haus führen und ihn kleiden. Wir werden ihm Geborgenheit und Würde schenken.

Und wenn das der Fall ist, schreibt Jesaja, dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.

Heilung ist hier der zentrale Begriff. Und mit Heilung ist nicht die Heilung von meiner persönlichen Krankheit gemeint, sondern die Heilung der Gemeinschaft, meines Landes, meines Ortes, meines Hauses, in dem ich wohne, und damit am Ende auch die Heilung der Welt.

Die Voraussetzung dafür ist es jedoch, dass ich mit dem anderen das Brot breche.

Naja, und wir müssen diesen Weg auch nicht alleine gehen. Wenn wir diesen Weg der Heilung beschreiten, wird er – also Gott – hinter uns hergehen, unseren Rücken stärken und schützen.

Und wenn Sie fragen oder denken sollten: Wie soll ich das denn tun? Ich bin doch schon alt und nicht mehr ganz so flink und stark, wie ich es gerne wäre… Dann kann ich Ihnen sagen: Dazu gehört nicht viel. Vielfach ist es die kleine Geste, das gute Wort, ein Lächeln, ein Danke oder ein offenes Ohr. All das kann dafür sorgen, dass es dem anderen besser geht.

Tja, und wenn uns der Mut verloren gehen sollte, wird er, wird Gott für uns da sein. Und zu Not können wir ihn auch anschreien. Mit anderen Worten: Es ist auch erlaubt, sehr, sehr laut zu beten.

So, und dann sagt Jesaja noch etwas:

Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.

Ich sage es mal so: Zur Menschenernte gehört noch ein wenig mehr dazu, nämlich den anderen nicht zu unterjochen, nicht übel über ihn zu reden.

Aus dem Umgang mit den Menschen können wir auch den Umgang mit Gottes Schöpfung lernen. Ich darf den Boden, die gute Erde Gottes, nicht unterjochen. Wir sollen uns zwar die Erde untertan machen, sie aber nicht unterjochen. Wir sollen sie nicht ausnutzen, ausmergeln, erschöpfen, zu Tode bringen. Sie, die Erde, untertan zu machen, bedeutet, sie zu verstehen, ihr zuzuhören, was sie uns zu sagen hat; Erde und Mensch sind nämlich aufeinander angewiesen.

Also, wenn wir all das tun, was Jesaja uns so dringend im Auftrag Gottes nahelegt, wird uns Gott sättigen, stärken und vieles andere mehr.

Jesaja spricht sehr deutlich die Situation im alten Israel an, das desolate Jerusalem. Es ist eine Verheißung, dass alles, was durch des Menschen Fehlverhalten zerstört worden ist, durhc das richtige, das von Gott empfohlene, Verhalten wieder geheilt werden kann.

Wir leben in einer Welt, in der durch Machtmissbrauch, wirtschaftliche Ausbeutung, Unterjochung, üble Nachrede, Millionen Menschen hungern müssen, hungern müssen an Leib und Seele.

Die Zusage Jesajas, der er im Auftrag Gottes getan hat, gilt auch uns heute in unserer desolaten Welt.

Sein Wort hilft uns, sich in dieser Welt zu orientieren, sich nicht von Menschen, die allzu leichte Lösungen präsentieren, verführen zu lassen.

Und auch hier können wir von der Natur, der Erde lernen. Jeder von uns, der einen eigenen Garten hat, weiß, dass es Zeit und gute Pflege braucht, wenn etwa werden, wachsen und gedeihen soll. Da gibt es keine einfachen Lösungen, sondern harte, kontinuierliche Arbeit.

Der Hunger in unserer Welt ist noch. Ich sage es ohne jede Sozialromantik oder religiöse Einfalt, aber im Schöpfungsbericht können wir es nachlesen, wie Gott die Welt geschaffen hat und wie weise er alles geordnet hat:

Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise. Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Und es geschah so. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. 1. Mose 1, 26-31

Gott hat ein System geschaffen, in dem niemand hungern müsste. Jeder hat in dem System eine Aufgabe für den anderen.

Und weil wir von einem Fleisch und Blut und von einer Schöpfung sind, sind wir auf unserer Erde alle aufeinander angewiesen. Da ist Egoismus und alles, was sagt: Ich zuerst – lebensgefährlich.

Brich mit dem Hungrigen dein Brot, kennt keine Grenzen. Und Erntedank bedeutet, auch dem zu geben, der nichts hat. Darin wird der Dank an Gott sichtbar und die Heilung der Welt möglich.

Und niemand – auch Gott nicht – hat gesagt, dass das einfach ist. Und deshalb möchte ich mit zwei Sätzen von Dietrich Bonhoeffer diese Predigt abschließen:

Ein schwerer, verhängnisvoller Irrtum ist es, wenn man Religion mit Gefühlsduselei verwechselt.
Religion ist Arbeit. Und vielleicht die schwerste und gewiss die heiligste Arbeit, die ein Mensch tun kann.
Dietrich Bonhoeffer (DBW 10, 484)

Amen!

Predigt zum Erntedank im Evangelischen Seniorenzentrum „Willi Kupas“ in Wittenberge am 11. Oktober 2017 über Jesaja 58, 7-12