Pfr. Martin Dubberke
Glaube | Bild: Martin Dubberke

Ein Tag des Reichtums

Liebe Geschwister, als Protestanten feiern wir gewissermaßen zweimal im Jahr Geburtstag: Einmal feiern wir ihn mit aller Christenheit zu Pfingsten und als Protestanten dann heute am Reformationstag, und das immerhin schon zum 502. Mal. Das mit den zwei Geburtstagen ist ja immer so eine Sache. Wir kennen das aus anderen Lebenszusammenhängen, wenn man z.B. einen Unfall oder in letzter Sekunde eine schwere Operation überlebt hat oder sein Leben vollkommen neu ausgerichtet hat. Dann reden wir gerne von einem zweiten Geburtstag.

Der zweite Geburtstag aber, trennt uns nicht von unserer wirklichen Geburt und unserer Geschichte seit unserer Geburt. Und genau deshalb trennt uns der Anschlag von Martin Luthers 95 Thesen am 31. Oktober 1517 nicht von unserer Geschichte und Kirchengeschichte seit der Zeit Jesu Christi.

Ich habe das erst kürzlich hier in Garmisch-Partenkirchen bei einer Taxifahrt zu spüren bekommen. Ich hatte eine Beerdigung in Oberau und weil es regnete, nahm ich ein Taxi und nicht – wie bei mir üblich – das Fahrrad. Als mich der Taxifahrer fragt, was ich auf dem Friedhof wolle, antworte ich, dass ich Pfarrer bin und dort gleich eine Beerdigung machen würde. Da ging aber dann gleich das ganze Sperrfeuer gegen DIE Kirche los. Meine lieben Geschwister, da bekam ich alles ab, angefangen bei den Kreuzzügen über das Thema Missbrauch, Erbschleicherei und vielerlei Sünden mehr. Nein, ich hatte da keinen jungen Mann am Steuer, sondern einen schon sehr betagten Herrn, in dem sich eine Menge aufgestaut hatte. Er machte da keinen Unterschied zwischen katholisch und evangelisch. „San’s oalle, Vabrecher!“

Dieses Gespräch war davon geprägt, dass ich mir seine Vorwürfe, die alle nicht grundlos waren, anhörte, sie aufnahm, erklärte, einordnete, alle Verallgemeinerungen ansprach und sagte, welche Herausforderungen damit verbunden wären, wenn man sich den biblischen Befund anschauen würde. Als ich dann an der Friedhofspforte in Oberau die Fahrt bezahlte, bedankte sich der Taxifahrer bei mir für das Gespräch und wünschte mir alle Kraft und sogar Gottes Segen für den schwierigen Job, den wir – Achtung – jungen Pfarrer hätten.

Warum, liebe Geschwister, erzähle ich ausgerechnet heute diese Geschichte? Weil es um Missstände geht, die das Bild der Kirche, unserer Kirche nach außen zuweilen stärker prägen als die guten Dinge.

Das war 1517, als Martin Luther die 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche nagelte, auch so, nur deutlich extremer.

Es war etwas aus dem Ruder gelaufen und das fiel auf. Und im Gegensatz zu heute, war es auch noch lebensgefährlich, wenn man es ansprach oder gar wirksam in die Öffentlichkeit hineintrug. Mit so einem Shitstorm hatte die Kirche damals auch so ihre Schwierigkeiten. Doch, wo man heute mit der Öffentlichkeitsarbeit moderat reagiert, konnte man damals nicht anders damit umgehen, als mit der vollen Wucht der Macht.

Martin Luther hatte eigentlich nichts anderes mit seiner Kirche getan, als es auch Jesus mit den Pharisäern gemacht hat. Er hat den Blick auf das Fundament geworfen, die Schrift, und hat sie mit dem Befund der Schrift konfrontiert und damit ihr Handeln gleichermaßen in Frage gestellt. Das musste in einen Konflikt führen. Und wie wir wissen, war das bei Jesus auch nicht viel anders. Die Evangelien berichten ja ausführlich darüber, wie die Pharisäer ihn schließlich versuchten zu überführen und welche Konflikte er mit ihnen ausfocht. Jesus vertrat einen Standpunkt. Und hier ließ er sich von nichts und niemandem abbringen. Bei Luther mündete diese Haltung in dem vielzitierten „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“

Die Reformation – und auch das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir heute das Reformationsfest begehen – hat eine Blutspur. Sie war nicht einfach ein Aufbruch, sondern sie hatte Verfolgungen, Ermordungen, ja den dreißigjährigen Krieg zu Folge. Was 1517 begann, mündete erst 1648 im Westfälischen Frieden.

Denn es ging nicht einfach um den Glauben, um den lieben Gott, sondern es ging auch um Macht.

Also, woran wollen wir heute denken, wenn wir den Reformationstag feiern?

Reformation bedeutet auch mutig genug zu sein, Dinge neu zu denken, ihnen auf den Grund zu gehen und Bestehendes auf der Grundlage der Schrift zu hinterfragen und auch aus einer neuen Perspektive heraus Glaube zu wagen. So wie es damals für die einen ein Akt der Befreiung war, war es für die anderen eine Infragestellung ihrer Macht und damit auch ihrer Definitionshoheit, was Glaube, was Kirche bedeutet. Und heute? Tja, wir haben hier in unserer Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern einen Prozess, der sich PuK nennt. Das bedeutet Profil und Konzentration. Das hat auch etwas mit Reformation zu tun, neu auf unsere eigene Kirche, ihre Aufgaben, ihre Strukturen zu schauen und sie zu verändern. Manche sehen darin eine große Chance und andere eine Gefahr. Doch deutlich wird, dass Kirche in Bewegung ist und in Bewegung sein muss.

Und Kirche ist allerorten in Bewegung. Nichts steht heute mehr still. Claus Kleber moderierte am 26. September im Heute Journal einen Beitrag über die Deutsche Bischofskonferenz mit folgenden Worten an:

„Bei den Nachrichten aus Fulda sträuben sich manch einem Konservativen im Vatikan die Nackenhaare. Es ist doch erst 500 Jahre her, dass einer ausstieg aus dem Gerüst vatikanischer Dogmen, ein Luther aus Deutschland.“

Mit wenigen Worten hat hier Claus Kleber ein Bild von dem gezeichnet, was da in Fulda geschieht und auch wieder hier in Deutschland geschieht. Ich will damit nicht von der Evangelischen Kirche ablenken, sondern deutlich machen, dass Kirche ohne Reformation verharrt und zur Kirche der Vergangenheit wird. Unser Glaube hingegen gibt uns aber den Mut, in die Zukunft zu gehen und das Wort Gottes in unserer Zeit zu verstehen.

Und so freue ich mich z.B. darüber, dass ich morgen mit meinem katholischen Kollegen gemeinsam auf dem Partenkirchener Friedhof Allerheiligen begehen werde. Bei uns Protestanten heißt dieser Tag „Gedenktag der Heiligen“ heißt. Das ist für mich Teil gelebter Ökumene, an so einem Tag im Glauben, Beten, Singen und Leben gemeinsame Wege zu gehen.

Und so ist der Reformationstag für mich nicht ein Tag oder ein Fest der Abgrenzung, sondern ein Tag des Reichtums, den uns Gott gemeinsam geschenkt hat.

Bei der Gelegenheit geht mir noch etwas anderes durch den Kopf, liebe Geschwister. Ich habe in der vergangenen Woche ein Erstgespräch mit einem Moslem gehabt, der sich taufen lassen möchte. Und als ich mich auf dieses Gespräch vorbereitet habe, wurde mir noch einmal etwas sehr wichtiges bewusst, nämlich, dass die Taufe für diesen Mann lebensgefährlich werden kann. Und mit einem Male wurde mir aus einer ganz anderen Perspektive deutlich, was es bedeutet, sich zum christlichen Glauben zu bekennen. Für uns, die wir hier sitzen, singen, beten, bekennen, wird das Christsein erst durch das konsequente christliche Handeln zum Risiko, wenn wir nämlich an den Punkt geraten, wo wir selbst sagen müssen: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.

Und das ist so, weil wir auf einem ganz besonderen Grund stehen. Wir haben es zum Anfang dieses Gottesdienstes gehört. Es ist der Spruch des Tages aus dem 1. Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 3, Vers 11:

Einen anderen Grund kann niemand legen
Außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.

Das ist etwas, was uns alle miteinander verbindet. Es gibt keinen katholischen oder evangelischen Jesus. Es gibt verschiedene Perspektiven, aus denen wir auf diesen Grund schauen und das ist der Reichtum. Reformationstag bedeutet für mich die Freiheit, aus verschiedenen Perspektiven auf die Schrift zu schauen und miteinander darüber – auch und vor allem in der Ökumene – ins Gespräch zu kommen, um dabei tiefer in die Schrift, in das, was unseren Glauben ausmacht, vorzudringen.

Und der Blick auf den Predigttext aus dem 5. Buch Mose, im 6. Kapitel, die Verse 4 bis 9 erinnert uns daran, dass Jesus selbst Jude gewesen ist und damit verbindet uns miteinander eine noch viel längere Geschichte und Glaubens- sowie Gotteserfahrung.

Der Predigttext ist das „Schma Jisrael!“ Das „Höre Israel!“ Das jüdische Glaubensbekenntnis. So ein Predigttext macht deutlich, wie tief die Wurzeln unseres Glaubens gründen. Dieses Bekenntnis ist noch einmal ganz anders als das Apostolische oder Nicänische, es ist ein Bekenntnis, das ein Handeln zur Folge hat:

Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
5. Buch Mose, im 6. Kapitel, die Verse 4 bis 9

Sich etwas zu Herzen nehmen, ist starkes Bild. Ich nehme mir etwas zu Herzen, lege es in mein Herz hinein und sofort pumpt es das Herz mit dem Blut bis in die äußersten Regionen meines Körpers, meines Seins. Am Ende bin ich vollkommen durchdrungen von dem, was ich mir zu Herzen genommen habe. Es ist ein Teil von mir, von meinem Sein.

Ich habe eine Kaffeetasse, aus der ich täglich trinke. Da ist vorne das Konterfei von Martin Luther drauf und auf der anderen Seite steht ein Luther-Zitat, das ich immer sehe, wenn ich einen Schluck aus der Tasse trinke:

„Glaube ist ein Geschenk Gottes in unseren Herzen.“

Was in meinem Herzen ist, kann ich nicht mehr vergessen, weil es für immer ein Teil von mir geworden ist.

Sich etwas zu Herzen zu nehmen, ist mehr, deutlich mehr, als sich etwas zu merken. Und damit ist es wichtiger als das, was man sich merken soll. Merken, ist nur ein Abspeichern, wie auf einer Speicherkarte. Zu Herzen nehmen bedeutet, dass es Teil meines Wesens wird und ich nie wieder in meinem Leben daran erinnert werden muss, weil es mir im wahrsten Sinne des Wortes in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Und genau das erhofften sich unsere Eltern, erhoffen wir selbst oder auch Gott, wenn wir sagen: „Nimm es Dir zu Herzen!“ Gott sagt es im „Schma Jisrael“ noch mit deutlich mehr Nachdruck als unsereins, weil er das ganze Gewicht seiner göttlichen Persönlichkeit einbringt:

Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden.
5.
Mose 6,6-7

Gott gebietet es, sich seine Worte zu Herzen zu nehmen und er tut noch etwas: Das, was ich mir zu Herzen nehmen soll, gilt nicht nur für mich, sondern auch für meine Kinder. Es ist gleichermaßen ein Generationenauftrag. Was mir zum Wesen werden soll, soll auch zum Wesen meiner Kinder werden und dann zum Wesen der Kindeskinder und dann der Kindeskindeskinder und so ist es bis heute. Auch für uns gilt das Gebot Gottes, das er uns geboten hat, uns zu Herzen zu nehmen. Wenn dieses Gebot heute zu unserem Wesen gehört, dann nur, weil es uns unsere Eltern eingeschärft haben, so wie wir es unseren Kindern vorleben und mitgeben sollen.

Sich diese Worte

Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.

auf die Hand zu binden und zwischen die Augen, macht deutlich dass ich in meiner Wahrnehmung dieser Welt und in meinem Handeln niemals vergessen soll, was es in letzter Konsequenz bedeutet, den Herrn, meinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all meiner Kraft lieb zu haben. Und Jesus setzt dem ja noch eines auf: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ So wird das Gebot zum Doppelgebot. Gleichzeitig wird durch das Binden zwischen den Augen und auf der Hand für jeden anderen das Bekenntnis sichtbar. Wir Christinnen und Christen tragen an dieser Stelle gerne auch das Kreuz an einer Kette um den Hals, um deutlich zu machen, was wir glauben und bekennen. Und wir sollen es an die Pfosten unseres Hauses und an die Tore schreiben. Auch das machen wir heute gerne. Wir müssen ja nur mit offenen Augen durch unser Garmisch-Partenkirchen gehen und sehen, an wie vielen Häusern draußen ein Kreuz dran ist oder im Haus ein Kreuz steht oder hängt. Dieses Kreuz ist auch das Versprechen nach innen und außen, genau so zu handeln. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.

Und so stellt sich nun die Frage, woran wir merken, dass uns dieses Gebot zum Wesen und nicht nur zu einer Plattitüde geworden ist. Hier kommt nämlich ein Kernstück der Reformation zum Tragen: Die Rechtfertigung allein durch Glauben. Das bedeutet, dass unser Handeln zweckfrei ist. Es ist nicht zu unserem eigenen Vorteil. Sondern es ist zum Vorteil der Gemeinschaft, der Welt. Der Glaube drängt uns zum Handeln und genau das macht das Schma Jisrael auf beeindruckende Weise deutlich.

Drum lasst es uns mit dem halten, was im Brief des Jakobus, Kapitel 1, Vers 22 steht:

Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein;
sonst betrügt ihr euch selbst.

Dem habe ich in aller protestantischer Bescheidenheit nichts anderes hinzuzufügen als: Amen – also: So soll es sein.


Predigt am Reformationsfest 2019, 31. Oktober 2019, in der Johanneskirche in Partenkirchen über 5. Mose, 6, 4-9, Perikopenreihe I