Pfr. Martin Dubberke
Weinberg des Kloster Neustift in Brixen | Bild: Martin Dubberke

Der Segen in der Traube

So spricht der Herr: Wie wenn man noch Saft in der Traube findet und spricht: Verdirb es nicht, denn es ist ein Segen darin!, so will ich um meiner Knechte willen tun, dass ich nicht alles verderbe.
Jesaja 65,8

Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.
Johannes 3,17

„Diese Zitrone hat noch viel Saft“ – so lautet der Titel der 1994 erschienenen Biographie der Berliner Schauspielerin, Diseuse, Kultfigur Lotti Huber. Sie veröffentlichte ihre Biographie im Alter von 82 Jahren. Diese katapultierte die selbstbewusste Lotti Huber, der ich regelmäßig in meiner Lieblingsbuchhandlung begegnete, an die Spitzen der Bestsellerlisten.

Was wollte sie mit dem Titel zum Ausdruck bringen? Du kannst so alt sein, wie du willst, aber da ist immer noch Leben, immer noch Energie drin, jeden Tag etwas Neues auszuprobieren, sich nicht aufs Abstellgleis schieben zu lassen. Lotti Huber ist das Paradebeispiel einer sogenannten Alterskarriere. In der Zitrone war bis zum Schluss noch viel Saft.

Wieso komme ich heute Morgen ausgerechnet auf diesen Titel? Was hat das mit der Losung und dem Lehrtext zu tun?

Es ist das Bild von der Traube, in der man noch Saft findet. Ja, und dieser Tropfen hat einen ganz besonderen Wert. Aus dieser Traube kann noch ein Wein gewonnen werden. Dieser Tropfen Saft ist ein Segen. Und genau um dieses Tropfen willens hat uns Gott bis zum heutigen Tage nicht aufgegeben.

Wie schnell geben wir dahingegen Menschen auf? Da ist dann gerne mal die Rede von dem berühmten Potential, das diesem Menschen fehlt. Und schon wird er ausgemustert, an den Rand geschoben, mit Bürgergeld alimentiert. Wie viele randständige Menschen gibt es in unserem Land, in unserem Ort? Je mehr Menschen in unserem Land von den Sozialsystemen aufgefangen werden müssen, desto deutlicher wird, was in unserem Land nicht funktioniert.

Wie schnell geben wir Menschen auf, die uns nicht in den Kram passen, statt uns um sie zu bemühen? Das ist zu anstrengend? Da merkst Du mal, was der liebe Gott so seit Urzeiten alles aushalten musste und muss.

Wir Menschen sind doch eigentlich eine ziemlich misslungene Angelegenheit. Dafür, dass uns Gott geschaffen hat, sind wir ganz schön mangelhaft. Wir sind ihm gewissermaßen aus dem Ruder gelaufen. Wer weiß, wie das mal mit der Künstlichen Intelligenz sein wird, ob sie uns nicht auch irgendwann aus dem Ruder laufen wird?

Gott hat uns aber nie aufgegeben. Das war ja schon gestern Thema. Er hat sich immer und immer wieder um uns bemüht, damit wir nicht endgültig verderben. Immer und immer wieder hat er sich etwas einfallen lassen, damit es am Ende dann doch irgendwie weitergeht, weil einige wenige Menschen ein Einsehen hatten oder haben und dann die Vernunft zum Walten kommt, die Vernunft, die Gott uns allen eigentlich eingepflanzt hat, als er uns geschaffen hat.

Im Grunde genommen dreht es sich immer und immer wieder um das gleiche Thema. Der Mensch geht auf Distanz zu Gott, weil er aufgrund seiner Gottähnlichkeit glaubt, dass er Gott ist. Aber wir sind nicht Gott, nur weil er uns nach seinem Bilde geschaffen hat. Wir können nicht ohne ihn, auch wenn das allein in Deutschland mehr Menschen glauben, als Menschen, die glauben, dass es Gott gibt. Und damit sind wir wieder bei der Traube angekommen. Die Menschen, die glauben, sind diese Traube, in der noch Saft ist, der zum Segen werden kann, weil sie es sein können, derentwegen Gott nicht alles verderben wird.

Doch was bedeutet das für uns, die wir glauben? – Yepp, das bedeutet, dass wir den Saft in uns zeigen sollten, die Power, die in uns steckt, um andere Menschen anzustecken, in denen irgendwo noch ein Rest, ein klitzekleiner Tropfen ist, dessen sie sich vielleicht gar nicht mehr bewusst sind.

Das bedeutet, andere Menschen nicht aufzugeben. Denn wer sind wir, dass wir über das Potential von Menschen entscheiden? Denn auch sie sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Jeder Mensch ist wertvoll, auch wenn er vielleicht ein Kotzbrocken ist.

Und genau an dieser Stelle können wir viel von Jesus lernen. Den hat Gott nämlich nicht in die Welt geschickt, um uns zu richten. Das würde schnell gehen, weil die Liste der Vergehen lang wäre. Da will ich heute Morgen gar nicht damit anfangen, diese Liste aufzumachen. Da reicht’s am Morgen, die Zeitung aufzuschlagen. Also, wenn es danach ginge, würde ein einziger Blitzschlag reichen, um der leidigen Sache mit uns Menschen ein Ende zu bereiten und der Schöpfung endlich die Ruhe zu schenken, die sie ohne uns Menschen endlich hätte.

Nein, der liebe Gott hat den schwierigeren und anstrengenderen Weg gewählt. Der alte Optimist will uns einfach retten. Und genau zu diesem Zweck hat er uns seinen Sohn gesandt, damit er uns retten soll. Und Jesus hat uns vorgelebt, wie das funktionieren kann. Jesu Leben ist gewissermaßen eine Perlenkette von Best Practice-Beispielen, die sich wie immer mit seinen eigenen Worten zusammenfassen lässt:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diesen beiden.
Markus 12,29-31

Also, es geht wieder – wie auch gestern – um die Nähe und Distanz zu Gott. Gehen wir auf Gott zu, verringern wir auch die Distanz zu uns selbst und zu unserem Nächsten. That’s it. So einfach könnte es sein.

Pfarrer Martin Dubberke, Gedanken zu Losung & Lehrtext vom 11. Mai 2023

Pfr. Martin Dubberke
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