Pfr. Martin Dubberke

Denn wer Gottes Willen tut

Liebe Geschwister, ich lese zuerst einmal den Predigttext aus dem dritten Kapitel des Markus-Evangeliums, die Verse 31 bis 35:

Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

Meine lieben Geschwister, was für ein Predigttext für eine Antrittspredigt als neuer Gemeindepfarrer. In der Luther-Bibel wird diese Perikope ja mit den Worten „Jesu wahre Verwandte“ überschrieben. Sprich, ich werde mich nun der Frage nach der Familie stellen müssen. Habe ich etwa mit dem Einzug in das Pfarrhaus, wo jeder seinen eigenen Trakt haben kann, meine Familie, meine Frau, meine beiden Söhne abgegeben und nur noch meine Gemeinde als Familie? – Also, ich glaube, das wäre der Moment, in dem meine Frau mit den Kindern auszöge und zu mir sagen würde: „Na, dann noch ein schönes Leben, mein Lieber!“

Also, mal ganz ehrlich, dieser von Jesus in die Runde seiner Zuhörerinnen und Zuhörer gesprochene und auf sie gemünzte Satz: „Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!“ war schon eine ziemlich heftige Nummer. Ich hätte mich das meinen Eltern gegenüber nicht getraut – naja, während meiner Pubertät sind sicherlich schon mal solche Sätze gefallen, aber eben in der Pubertät.

Aber Jesus war zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr in der Pubertät, sondern nachweislich ein erwachsener, wenn auch junger, Mann. Und ich stelle mir vor, wie seine Mutter und seine Brüder reagiert haben könnten. Eine ganze Menge Interpretinnen und Interpreten schließen an dieser Stelle ja gerne von sich selbst aus auf andere und mutmaßen, dass die Mutter entsetzt, schockiert, enttäuscht, betrübt war, dass ihr Sohn, dieser besondere Sohn, den sie vom Heiligen Geist empfangen hatte, sie nun leugnete. Und zugegeben, jede und jeder von uns, der Vater oder Mutter ist, wird sich in so einer Situation wohl wie vor den Kopf gestoßen fühlen.

Ich persönlich glaube aber, dass Maria ihren Sohn genau kannte und es als das einzuordnen wusste, was es wirklich war: Ein drastisches Bild, das deutlich machen sollte, was es bedeutet, wenn man Jesus folgt, konsequent folgt. Viele Interpretinnen und Interpreten sagen ja auch, dass das bedeutet, sich aus seinen familiären Bindungen zu lösen, wenn man Jesus folgen will.

Ich persönlich glaube aber auch, dass Maria Jesus genau verstanden hat und sie genau wusste, dass es eben das nicht bedeutet. Jesus war erwachsen und das bedeutet auch, dass er sich mit dem Vierten Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ intensiv auseinandergesetzt hatte. Und genau das darf man nicht aus dem Blick verlieren, wenn man sich mit diesem Text beschäftigt. Jesus eröffnet vor diesem Hintergrund mit seiner provozierenden Aussage, dass, wer den Willen Gottes tut, seine Schwestern, Brüder und seine Mutter sind, einen vollkommen neuen Horizont, was das Zusammenleben in seiner Nachfolge betrifft. Ich bin mir sicher, dass die Menschen damals aufgehorcht haben und das gewiss auch als eine Irritation empfunden haben. Wie kann ich mit jemandem verwandt sein, mit dem ich nicht über das Blut verwandt bin?

Wer Jesus folgt, wer Gottes Willen tut und so zum Bruder oder zur Schwester Jesu wird, weiß nun, was das in seiner Tiefe bedeutet, nämlich die Herausforderung, zu leben, was Jesus gelebt und verkündigt hat. Es geht also um nichts mehr oder weniger, als in der Nachfolge Jesu Christi, den von ihm vorgelebten Willen Gottes zu tun. Auf diese Weise macht Jesus deutlich, wer auf diesem Fundament Gemeinschaft mit Christus und den anderen hält, der gehört zur Familie Gottes. Und damit ist geradezu körperlich, seelisch und emotional zu spüren, dass die Nachfolge Christi und den Willen Gottes zu tun, die familiäre Bande ist, die uns zusammenbringt und zusammenhält.

Tja, und was bedeutet das nun für einen lutherischen Gemeindepfarrer bei seiner Antrittspredigt? – Ganz einfach, er muss sein Verhältnis zwischen seiner leiblichen Familie und seiner Gemeinde als Familie geklärt haben.

Sie haben ja gesehen, dass meine Frau eine der Lesungen übernommen hat und unsere Söhne auch fröhlich dabei sind. Gut, meine Mutter, die noch lebt, ist heute leider nicht dabei, aber mit ihren nahezu 87 Jahren ist ihr die Reise hierher zu anstrengend gewesen. Aber sie sitzt jetzt in Berlin im Wohnzimmer in ihrem Sessel und ist in Gedanken hier bei uns, bei mir und freut sich darüber, dass ich hier heute als Pfarrer eingeführt worden bin.

Sie sehen, ich habe mich nicht von meiner leiblichen Familie distanziert, ganz im Gegenteil, sie ist der Ort meines Rückhalts, meine Erdung. Und ohne meine Frau wäre ich heute nicht hier. Wenn meine Frau und unsere Söhne nicht bereit gewesen wären, mit mir hierhin aufzubrechen, stünde ich heute nicht auf dieser Kanzel und würde mir nicht in dieser persönlichen Weise Gedanken über „Jesu wahre Verwandte“ machen, sondern wohl auf einer anderen Kanzel eher theologisch grundsätzliche.

Ich glaube, dass man in einer Familie sehr viel lernen kann, nämlich füreinander einzustehen, Liebe in guten Zeiten zu genießen und Liebe in schwierigen Zeiten zu bewahren, Konflikte auszuhalten, aneinander und miteinander zu wachsen, sich mal gehen zu lassen und gemeinsam Spielregeln für ein gutes Miteinander zu finden und zu vereinbaren. Und natürlich bringt mich meine Familie auch mal an meine Grenzen. Fragt da mal meine Frau.

Aber genau diese Grenzen sind wichtig, weil diese nur gemeinsam erfahren und gemeinsam überwunden werden können. Das ist in der Gemeinde nicht anders. Das kann ich Ihnen und Euch schon mal versprechen, dass wir nicht immer einer Meinung sein werden, aber ich immer bestrebt sein eine gemeinsam tragbare Lösung miteinander zu finden. An dieser Stelle kommt nämlich das Grundsätzliche zum Tragen: Wir sind Schwestern und Brüder. Und es kommt noch ein weiteres zum Tragen: Wir sind vom lieben Gott alle unterschiedlich begabt worden. Niemand kann alles. Niemand weiß alles. Und das ist auch gut so! Würde jemand nämlich alles können und wissen, wäre er auch der einsamste Mensch unter Gottes weitem Himmel, weil er niemand anderen mehr bräuchte. Es ist also gut so, dass wir unterschiedlich begabt sind. Denn so sind wir aufeinander angewiesen, um gelingende gelebte Familie und Gemeinde zu sein.

Vor diesem Hintergrund lasst uns noch einmal einen Blick auf den Predigttext werfen. Jesus sagt:

Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Markus 3,35

Das heißt, im Mittelpunkt steht das Tun des Willen Gottes. Damit hat der Text – nebenbei gesagt – auch eine starke ökumenische Komponente. Das Tun des Willens Gottes schafft die Familie, macht uns zu Geschwistern.

Ich habe bei der Predigtvorbereitung ein wenig schmunzeln müssen, als mir die Worte durch den Kopf gingen, mit denen unsereins gerne seine Predigten beginnt. Besonders beliebt ist hier ja die Anrede:

„Liebe Gemeinde…“

Das hält auf Distanz: Ihr Gemeinde – ich Pfarrer. Ihr hört zu, ich rede.

Eine andere Variante lautet:

„Liebe Schwestern und Brüder, …“ oder, wie ich es seit einer Weile bevorzuge: „Liebe Geschwister…“

Das schafft schon deutlich mehr Nähe. Man ist miteinander verbunden, der Pfarrer oder die Pfarrerin macht deutlich, Teil dieser Familie zu sein.

Achtung! Hier kommt eine kleine Spitzfindigkeit: Genau genommen ist ja die Anrede „Liebe Gemeinde“ ein wenig so, wie auf Sicherheit fahren. Schließlich weiß ich doch als Pfarrer nicht, ob alle, die vor mir sitzen, während ich hier stehe und predige, auch wirklich den Willen Gottes tun.

An solche Spitzfindigkeiten dürft Ihr Euch, liebe Geschwister, bei mir gewöhnen. Habt Ihr das gemerkt? Ich habe Euch geduzt und Euch Geschwister genannt. Geschwister duzen sich. Die liebe Gemeinde siezt sich.

Kommen wir noch einmal auf den Moment zurück, der uns zu Schwestern und Brüder Jesu macht, also den, wo Jesus sagt:

Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Markus 3,35

Damit sind wir bei einem weiteren Aspekt dieses steilen Satzes: Wir werden miteinander Geschwister, weil wir durch das Tun des Willens Gottes Jesu Geschwister werden. Das bedeutet, dass ich erst einmal Jesu Bruder werde und ich dadurch mit allen anderen verwandt werde.

So, aber nun kommt ja das eigentlich Schwierige an der ganzen Geschichte, nämlich die Antwort auf die Frage, was denn der Wille Gottes ist.

Immerhin haben wir hier ja mit Uli, Irene, Birgit, Hanns-Martin Hager und mir insgesamt fünf Perspektiven auf den Willen Gottes, die wir Euch Sonntag für Sonntag präsentieren. Naja, und dann kommen ja noch die Perspektiven von rund fünftausend Mitgliedern unserer Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde zum Tragen.

So, und damit können wir auch die schönsten familiären Konfliktsituationen entfalten. Ich spreche nur das Wort Familienkonflikte aus. Wer unter uns Geschwister hat, weiß, was ich damit meine. Da steckt jede Menge Vitalität dahinter. Und Streiten bedeutet, Positionen zu klären und beieinander zu bleiben und wieder zusammenzukommen. So, wie es auch in einer vitalen Gemeinde oder einem Pfarrteam sein muss.

Dass man zusammenbleibt, Konflikte erträgt, austrägt und sich am Ende wieder verträgt, funktioniert nur, wenn man den Willen Gottes tut. Und wie der lautet, hat Jesus in einem einzigen Gebot zusammengefasst:

Das höchste Gebot ist das:
„Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,4-5).
Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
Markusevangelium 12,29-31

Also, eigentlich ist ja alles ganz einfach, oder?

Es gibt da aber auch noch zahlreiche andere Gesichtspunkte, die Jesu Bild von den Schwestern und Brüdern und der Familie eröffnet. Und zuweilen stelle ich mir die rhetorische Frage, ob Jesus das in seiner Gänze wirklich im Blick hatte, denn eine Familie besteht ja nicht nur aus Mutter, Vater, Kindern, sondern auch aus Eltern, Schwiegereltern, Nichten, Neffen, Tanten und mancherlei anderen Anverwandten. Und auch da kann jede und jeder von uns bestimmt so manche Geschichte erzählen. Eine ganze Film- und Literaturgattung widmet sich ja dem Thema Familienfehden.

Und wie sieht das eigentlich mit der Pubertät aus? In so einer Jesus-Familie wie der unsrigen kommen alle Generationen vor: Die der Alten, der Mittelalten, der Jungen, Pubertierenden, Kinder, Babys, Männer, Frauen… Sie bilden jeder für sich Gruppen von Gleichgesinnten, sogenannte „Peergroups“, wie auch bei uns in der Gemeinde. Da gibt es das Pfarrteam, die Kirchenmusik, die Dienstbesprechung, den Kirchenvorstand, das Büchereiteam, den Gästetreff, die Seniorenarbeit, die Jugendarbeit, die Konfirmanden und zahlreiche KV-Ausschüsse. Nicht zu vergessen, dass wir als Kirchengemeinde selbst Teil einer Großfamilie sind, des Dekanats, der Landeskirche, der EKD und nicht zuletzt der großen, weltumspannenden ökumenischen Gemeinschaft. Weltweit hat diese Familie 2,26 Milliarden Mitglieder. Wie überschaubar ist da die leibliche Familie.

Also, die Peergruppen hinterfragen Hierarchien, stellen Entscheidungen und manchmal auch andere Familienmitglieder in Frage und auch das Familienoberhaupt, oder das, was sie dafür halten. Und das Familienoberhaupt hat Jesus ja auch benannt. Das ist nicht der Pfarrer – Hurra, da atme ich tief auf – , sondern Gott selbst, denn wie sagt er so schön: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Fällt Euch etwas auf? In dieser Liste fehlt der Vater. Und wer das ist, das liegt ja wohl auf der Hand. Den kann es nur einmal geben.

Und damit wird für mich als Pfarrer unserer Gemeinde noch einmal deutlich: Ich bin genauso Bruder wie alle anderen Schwestern und Brüder. Ich bin Vermittler, Begleiter, Seelsorger, Perspektiveneröffner.

So, und vor diesem Hintergrund blicken wir mal auf den Wochenspruch:

„Christus spricht:
Was ihr getan habt einem
von diesen meinen Geringsten,
das habt ihr mir getan.“
Matthäus 25, 40b

Das ist doch eine sehr schöne Zusammenfassung des Satzes: „Denn wer Gottes Willen tut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Das macht deutlich, dass jede und jeder von uns Geschwistern auf eine ganze besondere Weise mit Jesus verbunden ist. Und daraus entsteht eine grundsätzliche Haltung im Leben dem anderen und der Schöpfung gegenüber. Dass uns diese Haltung nicht in jeder Situation und nicht jedem Menschen gegenüber immer leichtfällt, versteht sich dabei von selbst. Aber genau das ist ja die Herausforderung, vor die uns Jesus und damit auch unser Glaube stellt – und als Pfarrer noch einmal in besonderer Weise.

Dietrich Bonhoeffer hat diese Herausforderung mit Mitte Zwanzig folgenderweise auf den Punkt gebracht:

Ein schwerer, verhängnisvoller Irrtum ist es, wenn man Religion mit Gefühlsduselei verwechselt. Religion ist Arbeit. Und vielleicht die schwerste und gewiß die heiligste Arbeit, die ein Mensch tun kann.

Quelle: Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10, Seite 484

Dietrich Bonhoeffer spricht mir hier aus tiefstem Herzen. Ich fasse also abschließend zusammen: Es geht nicht darum, sich aus seinen Bindungen zu lösen, sondern die Bindungen so zu gestalten, dass sie dem Willen Gottes entsprechen, nach dem wir, liebe Geschwister, handeln und miteinander leben. Und diese Liebe endet nicht an den Grenzen der leiblichen Familie, sondern gilt allen, die den Willen Gottes tun. Das ist die Wurzel des Friedens, nach dem wir uns in dieser Welt sehnen und streben. Der christliche Glaube, das Leben in der Nachfolge Christi grenzt die Liebe nicht ein, sondern weitet sie weit über den privaten Bereich aus, um deutlich zu machen, was die eigentliche Botschaft ist, weil alles mit allem zusammengehängt, denn Jesus Christus spricht:

Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25, 40b

In diesem Sinne: Amen.


Autor: Pfarrer Martin Dubberke

Antrittspredigt als Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen am 13. Sonntag nach Trinitatis, dem 15. September 2019 um 16:00 Uhr in der Johanneskirche. Die Predigt folgt der Perikopenordnung.