Pfr. Martin Dubberke

Das ist nicht gerecht!

Das ist nicht gerecht! Der Satz könnte glatt von einem meiner Söhne stammen, wenn ich mal wieder eine sogenannte pädagogische Maßnahme ergreife.

„Das ist nicht gerecht! Bei meinem Bruder hast Du das nicht gemacht, aber bei mir. Das ist nicht gerecht!“Da nützt es dann auch nicht viel, wenn ich den Jungen in den Arm nehme und sage: „Du bist mein Sohn und ich liebe dich. Ich habe dich trotzdem ganz doll lieb.“

Das ist so eine Situation , die den Eltern unter uns sicherlich bestens vertraut ist und wenn nicht, so können wir uns sicherlich daran erinnern, dass es uns als Kindern selbst so manches Mal ergangen ist.

Und ich bin mir sicher, dass jede und jeder von uns solche Situationen aus seinem Leben kennt, wo man aus tiefsten Innern heraus sagt: „Das ist nicht gerecht!“

  • Das ist nicht gerecht, dass der befördert wurde. Der ist noch nicht so lange im Unternehmen. Das ist nicht gerecht!
  • Da kommen diese Flüchtlinge alle bei uns an und bekommen sofort eine Wohnung. Das ist nicht gerecht!
  • Die im Westen verdienen immer noch mehr für die gleiche Arbeit als wir im Osten. Das ist nicht gerecht.
  • Meine Mutter konnte damals schon mit 60 in Rente gehen. Ich muss bis 67 arbeiten. Das ist nicht gerecht!
  • Von wegen, die Rente ist sicher. Nicht für uns Babyboomer. Länger arbeiten, weniger Rente. Das ist nicht gerecht!
  • So ein guter Mensch und stirbt mit 36 an Krebs und so ein Verbrecher von Politiker fällt einfach nicht um. Das ist nicht gerecht!

Jeder und jede von uns könnte diese Liste wahrscheinlich endlos fortsetzen und mit jedem weiteren Punkt in der Liste würde unser Frust wahrscheinlich steigen und wenn wir auf der politischen Ebene blieben, würde man am Ende gar noch zum Wutbürger.

Tja, bevor wir uns hier weiter in etwas hineinsteigern, sollten wir unser Augenmerk noch mal auf die spannenden Texte dieses Sonntags werfen. Da fallen nämlich ein paar Dinge auf:

Psalm 31, 23:

Ich sprach wohl in meinem Zagen:
Ich bin von deinen Augen verstoßen.

Matthäus 20, 12:

Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze ertragen haben.

Prediger 7,15 – also unser Predigttext:

Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.

Das kommt uns doch alles sehr bekannt vor, oder? Also, ich kenne das nur zu gut aus meinem Leben und Arbeiten. Wenn man das liest, stellt man sich doch ernsthaft die Frage, warum ich überhaupt an diesen Gott glauben soll und warum ich mich nach seinen Geboten richten soll, wenn es da keine Garantie gibt??? Wenn es keine Garantie auf Frieden, Wohlstand, ein langes und gesundes Leben gibt. Wozu? Das ist nicht gerecht!

Ich höre schon wieder die Arbeiter im Weinberg: „Wir sind zu kurz gekommen! Unsere Leistung ist nicht gesehen worden. Wir werden nicht wahrgenommen! Ich werde nicht wahrgenommen. Gott nimmt mich nicht wahr. Er sieht mich nicht. Das ist nicht gerecht!“

Oder wie es mir mal eine Kollegin in einer Mail geschrieben hat:

„Ich kann nicht an diesen Gott glauben, der die Menschen in Kriegen und Naturkatastrophen umkommen lässt. Ich kann nicht an diesen Gott glauben, der Flüchtlinge im Meer ertrinken lässt und Menschen in Afrika verhungern lässt, während er die Verursacher prima leben lässt.“

Da fehlt nur noch der Satz: Das ist nicht gerecht!

Das ist auch nicht gerecht. Aber ist Gott für diese Dinge etwa wirklich verantwortlich?

Werfen wir ruhig noch einmal einen weiteren Blick auf die Texte des Sonntags Septuagesimae; da wird uns noch etwas auffallen.

Psalm 31,20:

Wie groß ist Deine Güte Herr!

Und Vers 22:

Gelobt sei der Herr, denn er hat seine wunderbare Güte mir erwiesen in einer festen Stadt.

Genau! Es geht in allen Texten um Güte und Gnade. Glauben und zweifeln gehören zusammen. Ohne Zweifel kein Glaube und ohne Verzweiflung kein Erleben von Güte und Gnade? – Schauen wir mal auf den Wochenspruch aus Daniel 9, 18. Der hilft uns hier nämlich auch weiter:

Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine Barmherzigkeit.

Genau das ist das Thema: „Unsere Gerechtigkeit.“ Das ist etwas grundverschieden anderes als Gottes Gerechtigkeit. Und Daniel geht sogar einen wichtigen Schritt weiter, indem er nicht des Menschen Gerechtigkeitsverständnis mit der Gerechtigkeit Gottes vergleicht, sondern dem Gerechtigkeitsverstehen des Menschen Gottes Barmherzigkeit gegenüberstellt. Und Barmherzigkeit kann man sich nicht erwerben. Das macht das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg auf eindrückliche Weise deutlich. Die Barmherzigkeit Gottes erfährt man unverdientermaßen. Darin liegt das Großartige Gottes. Er entscheidet und das hat vordergründig erst einmal nichts mit meinem Verhalten zu tun.

Jeremia bringt diesen Aspekt auch noch einmal zur Sprache:

Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden, denn solches gefällt mir, spricht der Herr.

Genau das ist es: Es geht darum, den Herrn zu kennen, der Barmherzigkeit übt. Da kann ich mich noch so sehr für weise halten, ich werde mit meiner beschränkten Weisheit niemals das ganze Maß der Weisheit Gottes und seines barmherzigen Handelns erfassen. Es gibt eine Gerechtigkeit, die weit über mein Empfinden hinausgeht und genau diese Erkenntnis verändert mein Leben, verändert meine Wahrnehmung der Welt, meines Nächsten, weil ich loslassen kann.

Paulus formuliert das auch noch einmal in seinem Brief an die Philipper (2, 13)  auf seine unnachahmliche Weise wie folgt:

Denn Gott ist’s, der in euch wirkt Beides: das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

Da haben wir es wieder: „nach seinem Wohlgefallen.“ Das finden wir natürlich auch wieder bei den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20, 15a):

Oder habe ich nicht die Macht, zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist?

Und dann kommt hier noch die Steigerung (Matthäus 20, 15b):

Siehst du mich darum scheel, weil ich gütig bin?

Ich stelle mir gerade vor, ich hätte just in diesem Moment diese volle göttliche Breitseite abbekommen. Was würde da wohl in mir vorgehen? – Im ersten Moment wäre ich wohl baff erstaunt, weil ich dächte, dass ich Gerechtigkeit immer anders verstanden hätte und dann würde ich mich wahrscheinlich wie ein kleines neunmalkluges Kind fühlen, das seinem Vater versucht hat zu erklären, was Gerechtigkeit ist, was geht und was nicht geht. Mein Gott, wer bin ich denn, dass ich Gott sagen kann, was gerecht ist und was nicht gerecht ist?

Also, wieder alles zurück auf Anfang? „Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des Herrn harret! (Psalm 31, 25)

Das klingt nun nach allem wie: „Schalt mal einen oder zwei Gänge runter!“ Und genau an dieser Stelle kommt in Gestalt des Predigers meine heißgeliebte Alttestamentliche Weisheit zu Wort:

Dies alles habe ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens.

Da spricht ein Mann, der sein Leben und vor allem auch sein Verhältnis zu Gott reflektiert hat. Und es spricht hier ein Mann von großer Weisheit, der sich nicht seiner Weisheit rühmt, sondern eine, seine ganz persönliche Erkenntnis ausspricht:

Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.

Das ist doch großartig. Der Prediger sagt hier erst einmal nichts anderes, als dass ich mit Selbstgerechtigkeit nicht weiterkomme, sondern ganz im Gegenteil an ihr zugrunde gehen werde. Selbstgerechtigkeit ist etwas, mit man sich über andere erhebt, sich für etwas Besseres hält; etwas, womit man sich nicht wirklich beliebt macht, sondern sich eher isoliert. Wer mag schon einen selbstgerechten Widerling? Also, es wird mal wieder deutlich, dass meine Gerechtigkeit nicht die Gerechtigkeit Gottes ist oder gar sein kann. Ja es ist einfach so, dass Gottes Gerechtigkeit von mir gar nicht verstanden werden kann, auch wenn ich dreißig Semester Theologie studieren würde. Also kann mein Verständnis von Gottes Gerechtigkeit nur begrenzt sein, weil ich es nie zur Gänze verstehen werden kann. Wollte ich das für mich in Anspruch nehmen, würde ich zu einem religiösen Eiferer, Fundamentalisten oder gar blind wütenden Extremisten, der sich für den Vollstrecker der Gerechtigkeit Gottes halten würde. Was für ein fataler Irrtum, ja mehr noch: Unglaube. Und genau hier kam der Prediger aus seiner Erfahrung mit Gott heraus zu einer großartigen Schlussfolgerung:

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.

Da spricht nicht nur große Weisheit aus dem Munde des Predigers, sondern auch eine große Gelassenheit aus einem tiefen Glauben heraus und einem großen Respekt vor dem Handeln Gottes. Und was heißt hier Gelassenheit anderes als loszulassen und Gott zu lassen, als zu erkennen, was in meinen Möglichkeiten steht und was Gott zusteht. Paulus beschreibt diese Gelassenheit so:

Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen.

Amen. So soll es sein. Amen!

Predigt am Sonntag Septuagesimae, 17. Februar 2019 in der Königin-Luise-Gedächtniskirche über Prediger 7,15–18