Pfr. Martin Dubberke
Hans Nowak - Der Fischzug - Detail - aus der Heilandkirche in Oberau | Bîld: Martin Dubberke

Berührt – ein Update

Liebe Geschwister, „berührt“ – ein einziges Wort und doch sofort Kino im Kopf. Ein Hauch von Berührung auf meiner Haut, sanft, kaum spürbar und doch löst es Gänsehaut aus und damit im ganzen Körper ein Wohlgefühl, das auch die Seele erreicht. Eine zärtliche Berührung, die Geborgenheit fühlen lässt.

Auch Musik kann mich berühren oder ein liebes Wort. Mich kann aber auch ein Schicksal berühren. Mich berührt z.B. noch immer das Foto aus dem Innenraum einer Maschine der US-Luftwaffe, in der 640 afghanische Flüchtlinge auf dem Boden hocken. Dieses Bild will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Es hat sich eingebrannt und ich vermute, dass es das Foto des Jahres werden wird.

Die Angst und die Hoffnung haben diese Menschen die Maschine stürmen lassen und die Piloten haben eine mutige Entscheidung getroffen, die Maschine, die eigentlich nur für 134 Passagiere vorgesehen ist, in die Luft zu bringen und die Menschen in die Freiheit zu fliegen.

Ich weiß nicht, ob die Menschen, die auf dem Boden des Fliegers gesessen haben, gebetet haben. Ich weiß nicht, ob die Crew vor dem Start gebetet hat. Aber sie haben alle daran geglaubt, dass es klappen, dass es funktionieren könnte. Sie alle haben ihr Leben eingesetzt und es im Glauben und der Hoffnung riskiert, dass es gut gehen wird. Und es ist gut gegangen. Die Maschine hat abgehoben und ist sicher in der Freiheit gelandet.

Mir geht bei all dem ein Satz von Jesus durch den Kopf:

„Dein Glaube hat dir geholfen.“

Er sagte diesen Satz immer zu Menschen, die in ihrer Verzweiflung zu ihm gekommen sind, weil sie geglaubt haben, dass er ihnen helfen könne. Und genau dieser Glaube hat sie in Bewegung gesetzt, sie zu Jesus gehen lassen.

Bei aller Dramatik, trotz allen Versagens der Politik, wird dieses Foto der verzweifelt hoffenden Menschen in der amerikanischen Maschine als ein Bild der Hoffnung in Erinnerung bleiben. Auch wenn die Menschen in der Freiheit angekommen sind, haben sie die Heimat und alles, was dazu gehört verloren. Und seitdem dieses Bild am 17. August durch die Medien gegangen ist, ist die Situation in Afghanistan, in Kabul nicht besser geworden, sondern ganz im Gegenteil.

Doch gleichzeitig steht dieses Ereignis auch dafür, dass der aus der existenziellen Not, der Verzweiflung heraus erwachsene Glaube auf Rettung noch immer funktionieren kann. Und genau das sollte uns in diesen Tagen und in dieser Zeit zum Nachdenken und Handeln einladen. Ein Christenmensch, ist eben immer im Dienst.

Mich haben auch die Worte von Marcus Grotian in diesen Tagen berührt. Marcus Grotian ist als Bundeswehrsoldat selbst in Afghanistan gewesen und hat das Patenschaftsnetzwerk Afghanischer Ortskräfte mitgegründet. Er sagte in dieser Woche auf einer Pressekonferenz in Berlin: „Wir sind moralisch verletzt. Und zwar nicht von den Taliban, sondern von der eigenen Regierung.“ Am gleichen Ort sagte er auch: „Alle anderen Länder evakuieren jetzt alle Ortskräfte, wir evakuieren die, die man ausgewählt hat. Das finden wir verwerflich.“

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in meinem Leben das Wort „verwerflich“ gehört habe, aber dieses Wort ließ mich in seiner Wucht aufhorchen.

Was sagt mir in solchen Momenten die Geschichte vom Barmherzigen Samariter? Und ich denke hier insbesondere an die Frage die Jesus dem Gesetzeslehrer gestellt hat:

Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?

Der Gesetzeslehrer antwortete auf diese Frage: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.

Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Und was bedeutet das? Genau:

»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).

Auch Ortskräfte sind meine Nächsten.

Mich berühren die Bilder der Menschen, die es geschafft haben und in der Sicherheit gelandet sind, wenn ich ihre Erleichterung sehe. Mich berühren die Bilder des Menschen, die am Kabuler Flughafen versuchen, in eine der Maschinen zu gelangen. Mich rührt auch das Versagen der Politik an. Es ist ein Anrühren, das mich zornig macht, weil alles, was christliche Kultur und Verantwortung ausmacht, so verloren scheint. Ich erinnere mich an das Gespräch mit einem Bundeswehrsoldaten, der mehrfach in Afghanistan im Auslandseinsatz gewesen ist, der mir nach der Beerdigung eines früheren Soldaten, bei der er Trompete gespielt hat, sein Leid über die Geringschätzung durch Politik und Gesellschaft geklagt hat. Auch das hat mich sehr berührt.

Das ist aber keine Berührung, die ein wohliges Gefühl auslöst, sondern Trauer und Erschrecken über den Zustand unserer politischen und gesellschaftlichen Kultur, in der in besonderer Weise die Gottvergessenheit auch derer spürbar wird, die sich Christen nennen.

Ich weiß, dass die Problematik deutlich komplexer ist, aber natürlich geht mir an dieser Stelle durch den Kopf, was wir vorhin als Epistellesung gehört haben:

Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. 1. Johannes 4, 12

An dieser Liebe mangelt es an allen Ecken und Enden dieser Welt.

Wie anders ist da der Liedvers, den ich mir vor einigen Monaten als Predigttext im Rahmen unserer Sommerpredigtreihe ausgesucht habe. Er nimmt so schöne Bilder auf:

Du durchdringest alles;
lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so still und froh
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen.

Was für ein Kontrast zu dem, was wir in diesen Tagen in den Medien sehen und hören? Ein Bild der Ruhe und Ergebenheit. Gott durchdringt alles. Und dieses Durchdringen löst nicht die geringste Assoziation von Gewalt aus. Gott ist gegenwärtig. Er ist einfach in allem gegenwärtig. Es ist nun Gott, der mich berührt.

Der Dichter dieser Zeilen, Gerhard Terstegen, 1697 in Moers in Nordrhein-Westfalen geboren, war Laienprediger und gilt als Mystiker. Was aber ist ein Mystiker? – Karl Rahner hat einmal gesagt: „Der Christ der Zukunft ist ein Mystiker, er ist einer, der Gott erfahren hat.“

Es geht also in der Mystik nicht allein ums Glauben, sondern auch ums Erfahren. Es geht nicht nur darum, dass ich glaube, sondern, dass ich auch Gott erfahre. Es geht also um das, was wir heute so gerne Spiritualität nennen.

Gerhard Terstegen war ein Mann mit einem sehr tiefen Glauben und vor allem einem Gottvertrauen. Er hat in seinem Leben die Erfahrung gemacht, dass ihn sein Glaube überleben lässt.

Terstegen war früh Halbwaise geworden und seiner Mutter fehlte einfach das Geld, ihrem begabten Sohn ein Theologiestudium zu finanzieren und so ließ sich der Schüler einer Lateinschule, der auch noch Griechisch und Hebräisch gelernt hatte, zum Kaufmann ausbilden. Er gründete sogar ein eigenes Geschäft, zog sich aber daraus wieder zurück, weil es ihn daran hinderte, seinen Glauben wachsen zu lassen. Aus dem Trubel seines Geschäfts wechselte er in eine Profession, die ruhiger schien. Er wurde Leineweber, aber seine Gesundheit litt darunter, so dass er noch einmal den Beruf wechselte und dann in ziemlicher Armut und Einsamkeit lebte, geistliche Übungen machte und schließlich gab er 1728 – ein Jahr, bevor er das Lied „Gott ist gegenwärtig“ dichtete – seinen Beruf gänzlich auf und lebte als Laienprediger und Übersetzer von Mystikerinnen und Mystiker, zu denen auch die Schriften von Theresa von Avila gehörte, ganz von den Gaben, die er für seinen Lebensunterhalt erhielt. Er war also kein gut bestallter Pfarrer mit Pfarrhaus und einem ausreichenden Gehalt. Seine Lebenssituation war eher prekär. Er hatte keinen Predigtauftrag von irgendeiner Landeskirche. Er war nicht Teil einer verfassten Kirche, war kein Rädlein in einer Organisation. Er war im besten Sinne ein Laie und hatte sich freigestellt für die Sache Gottes.

Er hat sich in seinem Leben ganz allein auf Gott eingelassen und verlassen. Das hat seinem Leben seine Richtung gegeben. Er war im besten Sinne des Wortes befreit zu einem Leben mit und durch Gott.

Terstegen war ein Mann, der etwas getan hat, was wir uns heute kaum noch trauen, öffentlich zu sagen. Nämlich von seiner Erfahrung mit Gott zu sprechen. Und genau das ist der Unterschied zwischen Bekennen und Zeugnis ablegen.

Wenn ich sage, dass ich an Gott glaube, befinde ich mich auf der sicheren Seite. Da geht es dann um Werte, die auch Menschen teilen können, die nicht an Gott glauben. Das ist dann vielleicht die Konfession, die auf meiner Steuerkarte steht.

Wenn ich aber von meiner Gotteserfahrung spreche, mache ich mich gewissermaßen nackig. Von meiner Gotteserfahrung zu sprechen, bedeutet, dass ich etwas von mir preisgebe. Wenn ich von meiner Gotteserfahrung spreche, ordne ich mein Leben in meinem Glauben ein.

Und genau in dem Moment geschieht etwas sehr Wesentliches. Ich erkenne das Wirken Gottes in meinem Leben und genau das bedeutet wiederum, dass ich Gott erkenne.

Glaube bedeutet dann auch für mich, dass ich bin bereit bin, mich in meinem Leben von Gott berühren zu lassen. Gott zu erfahren, heißt dann, sich in und mit seinem Leben auf Gott einzulassen, mit ihm in Beziehung zu gehen und diese Beziehung zu leben. Diese Beziehung wird mich verändern und sie wird mich in meinen Beziehungen zu anderen Menschen verändern, weil mein Glaube mein Handeln durchdringen wird. Erst diese Beziehung wird mich beziehungsfähig machen, weil aufblühe und mich anderen Menschen öffne und mich mit allem, was mich ausmacht, zu erkennen gebe.

Du durchdringest alles;
lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so still und froh
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen.

Wer blüht nicht auf, wenn die Sonne scheint? Terstegen findet ein einfaches und geniales Bild dafür, was Gott im Leben eines Menschen bewirken kann. Die Natur besteht nicht nur aus Katastrophen, sondern auch aus Wundern. Denkt nur an die Bienenwiese vor unsere Kirche. All die Blumen versteckten ihren Duft und ihre Farben in ihren Knospen, die nicht aufgehen wollten. Doch mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen geschah das Wunder. Die Strahlen der Sonne berührten die Knospen, die vor lauter Freude aufplatzen und ihre Blüten entfalteten.

Und genauso wirkt Gott auch auf uns und unser Leben, wenn wir uns berühren lassen.

Terstegen wollte sich nicht mehr mit Worten über Gott begnügen, so wie ich sie gerade hier von der Kanzel spreche, sondern er sehnte sich, danach, Gott zu erfahren: Lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte.

Du durchdringest alles – Das ist eine Berührung, die durch und durch geht. Da klingt Ignatius von Loyola, der Ordensvater der Jesuiten durch, von dem der Satz stammt: „Gott finden in allen Dingen.“

Du durchdringest alles – Das ganze Leben, die ganze Schöpfung, alles Erleben ist von Gott durchdrungen. Ich muss also nur noch die Augen meiner Seele öffnen, und das, was ich in meinem Alltag erfahre, auf Gott hin wahrzunehmen. Ich muss nicht darauf warten, dass er mir begegnet, ich muss nur bereit und offen sein, ihn zu sehen und mich von ihm berühren zu lassen, denn Gott ist gegenwärtig. Amen!

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis 29. August 2021 in der Kreuzkirche Oberammergau über die 6. Strophe aus Gerhard Terstegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165) in der Sommerpredigtreihe „Berührt“

 

 

 

 

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