Pfr. Martin Dubberke

Bei dir ist die Quelle des Lebens

Was ist denn die Quelle des Lebens? Was ist für Sie die Quelle des Lebens? Wo finden wir unsere ganz persönlichen Kraftquellen?Was machen wir, wenn wir so richtig groggy sind, wenn wir so geschafft sind, dass wir uns nur noch nach einer bequemen Sitzgelegenheit sehnen? Beten wir da oder setzen wir uns lieber in einen Sessel und trinken ein schönes, kühles alkoholfreies Bier und spüren dabei wie die Lebensgeister wieder in uns erwachen?

Oder hören wir uns eine Bruckner-Symphonie an und sind ganz ergriffen von der Größe und Weite dieser Musik, in der man so wunderbar aufgehen kann?

Oder legen wir uns auf die Couch, machen die Fernsehkiste an und lassen uns berieseln bis wir wohlig einschlafen?

Oder gehen wir gar ins Sportstudio?

Das klingt alles recht profan, oder? Klingt nicht unbedingt nach Quelle des Lebens.

Die Quelle des Lebens ist bei ihm und das ist Gott. Aber, wie ich gerade mit meinen kleinen Beispielen versucht habe, deutlich zu machen, ist uns das nicht immer und überall und zu jeder Zeit bewusst. Wir haben alle so unsere besonderen Kraftquellen, mit denen wir unsere Erfahrungen gemacht haben.

Die Quelle des Lebens ist auch ein Ort, an dem ich leben kann, an dem ich alles finde, was ich zum Leben brauche, wo ich z.B. nicht wegen meines Glaubens verfolgt werde, wo ich nicht um meine Existenz und die meiner Familie fürchten muss. Die Quelle des Lebens, ist der Ort, an dem ich zur Ruhe kommen kann, wo ich nach Arbeit fragen kann, wo welche ist, wo ich etwas aufbauen kann.

Sie haben es gemerkt – ich habe es Ihren Augen angesehen – , dass ich hier gerade das Zinzendorf-Lied „Wir wollen es gerne wagen“ ein wenig habe anklingen lassen. Das ist kein Zufall. So, wie es auch kein Zufall ist, dass wir in diesem Gottesdienst nur Zinzendorf-Lieder singen.

Wissen Sie eigentlich, dass es eine Verbindung zwischen Zinzendorf und unserer Gemeinde gibt? – Nein? – Dann verrate ich es Ihnen: von Zinzendorfs Taufpate war ein gewisser Philipp Jacob Spener. Genau der, nach dem unser Gemeindehaus und unser Gemeindeblatt benannt ist, in dem unser Gemeindehaus steht.

Aber wieder zurück zum Eigentlichen. Die Quelle des Lebens ist ein Ort, an dem ich leben kann, an dem ich alles finde, was ich zum Leben brauche, oder, wie es in der Jahreslosung heißt:

Gott spricht:
Ich will dem Durstigen geben von der Quelle
des lebendigen Wassers umsonst.

Offenbarung 21,6

Er will es umsonst geben. Und genau das tat Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf 1722, als er mährischen Glaubensflüchtlingen auf seinem Gut Land zur Verfügung stellte, auf dem sie siedeln konnten. Die Böhmischen Brüder, die sich auf Jan Hus, der 1415 als Ketzer verbrannt wurde, zurückführen lassen, sind gewissermaßen die Urprotestanten. Sie wurden auch noch dreihundert Jahre nach der Verbrennung von Jan Hus in ihrer Heimat verfolgt. Sie sehen, Flüchtlinge, die einfach nur leben wollten, ihre Familien in Sicherheit wissen wollten, gab es auch schon damals. Und auch die Böhmischen Brüder fanden nicht so leicht einen Ort, an dem man sie haben wollte. Und dabei waren es sogar Christinnen und Christen, ja Protestanten. Zinzendorf gab ihnen auf seinem Gut Grund und Boden.

Und so beginnt am 17. Juni 1722 die Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine mit dem Fällen eines Baumes. Der mährische Zimmermann Christian David fällte an diesem Tag den Baum, mit dem das erste Haus der neuen Siedlung Herrnhut gebaut wurde.

Mit Herrnhut entstand ein Ort, der Zuflucht und Heimat zugleich wurde. Und die prägende Gestalt war Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, ein Mann, der handelte, der nach Arbeit fragte und nicht an seinem Amt verzagte. Auch nicht, als der Lutherischen Orthodoxie im Kurfürstentum Sachsen die Brüdergemeine in ihrer Selbständigkeit als Bedrohung der kirchlichen Einheit empfunden wurde. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Der Lutherischen Kirche war auf einmal so katholisch zu Mute, so dass Zinzendorf 1736 sogar verbannt wurde und ein Teil der Brüder nach Berlin ging, wo sie Böhmisch Rixdorf gründeten. Sehen Sie, Berlin oder genauer Neukölln war ein Ort, der als sicher wahrgenommen wurde, wenn man wegen seines Glaubens auf der Flucht war.

Und jetzt mal Hand aufs Herz: Stellen Sie sich vor, irgendjemand in diesen politisch spannenden Tagen käme auf die Idee und würde sagen, dass in Berlin die Evangelische Kirche verboten würde, weil sie sich so sehr in die Politik einmischen würde. Was würden Sie tun? Würden Sie nach Bayern auswandern, weil es dort einen protestantischen Ministerpräsidenten gibt und der Vorsitzende der CSU ebenfalls ein Protestant ist oder würden Sie aus der Kirche austreten und Ihren Glauben leugnen?

Seien Sie mir nicht böse, dass ich das mit einer gewissen Ironie pointiere. Aber das ist ungefähr die Situation, in der sich die Böhmischen Brüder 1736 befunden haben.

Und genau das nötigt mir enormen Respekt ab. Die Brüdergemeine muss eine ungeheuer starke Gemeinschaft gewesen sein. Und sie konnte das sein, weil sie direkt an der Quelle lebte. Weil sie wussten, dass die Quelle des Lebens nicht ein Fürst oder Kirchenregiment ist, sondern Gott. Das hat dazu geführt, dass die Brüdergemeine eine bis heute unabhängige Gemeinschaft geblieben ist und zu einer selbstständigen ökumenisch offenen Kirche geworden ist. Sie können als Mitglied der evangelischen Kirche auch Mitglied der Brüder-Unität sein. Damit ist eine Doppelmitgliedschaft möglich.

Die Brüdergemeine ist aber auch selbst zu einer Quelle geworden. Ab 1732 nahm die Gemeine die Missionsarbeit auf. Auch Zinzendorf war in dieser Funktion unter anderem in England, den Westindischen Inseln oder Nordamerika unterwegs und hat dort überall Gemeinden gegründet. Von Herrnhut ausgehend sind mittlerweile in über 40 Ländern 1700 Gemeinden entstanden.

Nebenbei gefragt: Haben Sie heute Morgen schon in die Losungen geschaut?

Die sind nämlich auch so eine Idee von Zinzendorf gewesen. Am 3. Mai 1728 gab er der Gemeinde in der Singstunde eine Losung mit auf den Weg. Und von dem Tag an, ging jeden Morgen ein Bruder in jedes der 32 Häuser in Herrnhut, trug die Losung des Tages vor. Dabei tauschte man sich nicht nur über die Losung aus, sondern es wurde auch Seelsorge gemacht. Und am Abend in der Singstunde trug der Bruder die Fürbitten und Anliegen der Gemeine vor.

Das muss man sich mal vorstellen: 32 Hausbesuche. 32 Gespräche über die Losung. 32-mal Seelsorge und dann wird am Abend alles in den Fürbitten zusammengefasst. Deutlicher kann man es nicht zum Ausdruck bringen, dass die Heilige Schrift von Gott als der Quelle des Lebens zeugt. Deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass diese Quelle Ursprung aller Gemeinschaft und Fürsorge ist. Anders kann man es kaum zum Ausdruck bringen, dass diese Quelle die durstige Seele erquickt. Anders kann man es kaum zum Ausdruck bringen, wie sich Gemeinde aufbaut.

Gut, es waren nur 32 Häuser, aber es waren 32 Häuser mit Familien, Sorgen, Freuden, die am Abend zum Singen und Beten zusammenkommen sind in der Gewissheit, dass sie aus dieser Quelle heraus leben und Gemeinschaft erleben.

Ab 1731 wurden die Losungen für das ganze Jahr gezogen und in einem kleinen Büchlein veröffentlicht. So ist es auch heute noch, nur dass Sie die Losungen heute auch in Ihrem Handy haben können.

Dietrich Bonhoeffer, der auch jeden Morgen Losung und Lehrtext las, hat 1939 in seinem Buch „Gemeinsames Leben“ folgendes geschrieben:

„Es ist nun kein Zweifel, daß etwa auf den Losungen der Brüdergemeine für alle, die sie gebrauchen, bis zur Stunde ein wirklicher Segen liegt. Gerade in den Kampfzeiten der Kirche ist das vielen zu ihrem großen und dankbaren Erstaunen aufgegangen. Aber es kann ebensowenig ein Zweifel darüber bestehen, daß kurze Leit- und Losungsworte nicht an die Stelle der Schriftlesungen überhaupt treten können und dürfen. Die Losung für den Tag ist noch nicht die Heilige Schrift, die durch alle Zeiten hindurch bis in den jüngsten Tag bleiben wird. Die Heilige Schrift ist mehr als Losung.“ (Bonhoeffer, 1987, S. 43)

Ich bin mir sicher, dass Bonhoeffer es heute nicht anders sehen würde.

Die Losung ist gewissermaßen der Espresso unter den täglichen Bibellesen. Mit einem Vers aus dem Alten Testament, dem ein Lehrtext aus dem Neuen Testament gegenübersteht ist man dabei. Und wird das Ganze noch gepaart mit einer Liedstrophe.

Das am Morgen gelesen, begleitet einen Menschen einen Tag lang in seinen Gedanken, verändert seine Perspektive auf das, was er erlebt und lädt dazu ein, den Vers in seinem Kontext zu lesen. Die Losungen sind die Einladung, sich der Quelle des Lebens jeden Morgen aufs Neue zu vergewissern.

Und deshalb wagen jetzt mal einen Blick in Losung und Lehrtext für den heutigen Sonntag:

Mein Geist soll unter euch bleiben. Fürchtet euch nicht!
Haggai 2,5

Hoffnung lässt nicht zuschanden werden;
denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen
durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.
Römer 5,5

Und die dazu gehörende Liedstrophe stammt von Michael Schirmer aus dem Jahr 1640:

O Heilger Geist, kehr bei uns ein
und lass uns deine Wohnung sein,
o komm, du Herzenssonne.
Du Himmelslicht, lass deinen Schein
bei uns und in uns kräftig sein
zu steter Freud und Wonne.
Sonne, Wonne,
himmlisch Leben willst du geben, wenn wir beten;
zu dir kommen wir getreten.

Was soll ich dazu noch sagen? Passt!

Bei Dir ist die Quelle des Lebens…

Amen.

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis am 17. Juni 2018 im Rahmen der Predigtreihe „Du bist die Quelle des Lebens“ in der Königin-Luise-Gedächtniskirche