Pfr. Martin Dubberke

Autorität entsteht durch Authentizität

Liebe Gemeinde,

der Predigttext steht beim Propheten Amos im 5. Kapitel:

21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. 22 Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. 23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! 24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Wenn meine Frau und ich uns mal wieder darüber unterhalten, wie wir uns kennen gelernt haben, dann nennt sie immer einen Satz, den sie nie vergessen wird, weil es der ist, mit dem ich mich unvergeßlich in ihre Erinnerung eingegraben habe, mit dem sie mich zum ersten Mal richtig wahrgenommen hat. Ich soll damals gesagt haben, daß ich ein Rechtstheologe sei.

Ich weiß zwar nicht mehr, daß ich das gesagt habe und auch nicht mehr in welchem Zusammenhang, aber irgendwie paßt es auch zu mir, weil ich einer jener Theologen bin, der es nur schwer aushalten kann, wenn Wort und Wandel so weit auseinander klaffen. Ich weiß sehr wohl, daß wir als Menschen nicht vollkommene Geschöpfe sind, aber warum soll unsere Unvollkommenheit immer als Ausrede dafür dienen, der Vollkommenheit nicht näher zu kommen. Denn im Grunde leiden wir Menschen immer wieder an der scheinbaren Unüberbrückbarkeit zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Wir wären es so gerne, aber die Verhältnisse sind nicht so. Wir haben immer wieder Ausreden, mit denen wir uns drücken. Ich kenne das aus meiner therapeutischen oder auch seelsorgerlichen Arbeit mit Männern nur zu gut, und ich kenne es auch von mir zu gut. Das Aufgeben der Unvollkommenheit ist auch das Aufgeben eines Schutzes vor dem, was einem nicht leistbar scheint: der Übernahme von Verantwortung. Ich habe mich in meiner Unvollkommenheit eingerichtet und kann dort auch ganz gut überleben. Überleben schon, aber leben? Wandel ist in aller Regel schmerzhaft, weil es Abschied von Gewohntem bedeutet.

Vor uns liegen nun sieben Wochen, in denen wir die Möglichkeit haben, vom Gewohnten auf Probe Abschied zu nehmen. Sieben Wochen Passionszeit. Sieben Wochen Leidenszeit. Das klingt so schwer, so niederdrückend. Wer leidet schon gerne. Die meisten verzichten auf Fleisch, Süßigkeiten, Alkohol, Rauchen, machen Diät. Hier geht es an die eigenen Lüste und Bedürfnisse. Wenn ich mein geliebtes Steak oder meine geliebte Leberwurst nicht mehr Essen darf, dann spüre ich das körperlich. Ich spüre den Verzicht. Ich spüre, was er bei mir bewirkt. Die Passionszeit ist dann ein wundervoller und willkommener Anlaß mal sieben Wochen so zu leben, wie man eigentlich immer mit sich leben möchte. Sieben Wochen sind ein überschaubarer Zeitraum. Da kann man das ja mal ausprobieren. Sieben Wochen kann man doch mal durchhalten, den inneren Schweinehund besiegen oder zumindest anketten. Viele Menschen verbinden das mit einer Fastenkur. Sie wollen sich innerlich reinigen, entschlacken. Mit einem Male nehme ich meinen Körper anders wahr, meine Bedürfnisse, lasse vielleicht sogar mal meine Erschöpfungen zu. Am Ende der sieben Wochen steht eine besondere Erfahrung. Viele, die zum ersten Mal in ihrem Leben gefastet haben, lassen es zu einem festen Bestandteil ihres Lebens werden, weil sie gespürt haben, daß sie sich nicht nur etwas Gutes tun, sondern auch, weil sie sich selbst neu und anders kennenlernen und wahrnehmen. Sieben Wochen, in denen man seinen Körper und seine Seele endlich einmal bewußt geachtet hat.

Warum ich Ihnen all das erzähle? Sie fragen sich, was das mit dem Predigttext aus Amos zu tun hat? Sie meinen, nur, weil Gott unsere Feiertage verachtet und unsere miefigen Versammlungen – also Gottesdienste – nicht mehr riechen kann und all das fette Opfergut bei ihm Übelkeit auslöst, er also unsere ganze kirchliche Praxis nicht mehr ertragen kann? Pardon, jetzt Gott sagt durch den Propheten Amos nichts über die kirchliche Praxis, sondern über die Glaubenspraxis in der Zeit des Amos. Soll ich den kirchlichen Strang weiterverfolgen? – Nein, nein. Ich will nicht wieder in eines meiner Lieblingsthemen abgleiten. Ich will es einfach mal weltlicher sehen. Und die Amtskirche ist ja ein Teil der Welt, ein Teil in dieser Welt.

Stellen Sie sich mal vor, wir würden – nicht einmal in der ganzen Welt, so groß kann ich gar nicht denken, aber stellen sie sich einmal vor, wir würden in den nächsten sieben Wochen nur in Deutschland konsequent das Recht wie Wasser strömen lassen und die Gerechtigkeit nie einen nie versiegenden Bach. Stellen Sie sich das mal vor: Wir würden auf alle Tricks verzichten, mit denen man sich aus der Affäre ziehen kann. Sieben Wochen, ohne das Verfassungsjammerlied zu plärren. Was soll ich auch die frommen Weisen singen, wenn ich sie selbst nicht zu leben bereit bin. Stellen sie sich mal mal vor, wir würden Feiertage endlich mal zum Anlaß nehmen, das umzusetzen, was wir an Feiertagen immer fordern.

Ach, und es gibt so viele Feiertage in unserem Lande. Ich denke nur an all diese Tage, die sich Tag der Arbeit, Tag des Kindes, Internationaler Frauentag – der uns ja in der nächsten Woche bevorsteht – und was weiß ich nicht wie nennen. Stellen sie sich einmal vor, wir würden an einen solchen Tag nicht mehr Lippenbekenntnisse sprechen, sondern wirklich verkünden können, daß wir ausreichend Arbeits- und Ausbildungsplätze haben, daß es keine Gewalt mehr gegen Kinder gibt, daß in den Schulen der Unterricht stattfindet und keine Gewalt mehr in den Schulen stattfindet. Wir sollten an Frauentagen nicht mehr fordern müssen, daß Frauen gleiche Rechte und Pflichten wie alle anderen haben und wir sollten nicht mehr den Abbau von Gewalt in Beziehungen nur fordern, sondern einfach aktiv etwas dagegen tun, sprich, dafür zu sorgen, daß es mehr als nur Tropfen auf den heißen Stein gibt, daß es gesicherte Anlaufstellen gibt.

Dann hätten wir die Aufrichtigkeit, die die Situation dauerhaft verändert und zum Guten wendet. Dann müßten auch wir selbst nicht mehr diese Feiertage verachten und ihrer gram sein.

Wenn sieben Wochen lang in Deutschland alle Politikerinnen und Politiker, alle Christinnen und Christen, alle Männer und Frauen, einfach alle auf die allseits bekannten Ausflüchte und Ausreden verzichten würden, sondern schlicht und ergreifend ihre Lippenbekenntnisse, ihr Plärren, ihre Brandopfer, die doch nichts anderes sind als Aktionspläne, Kampagnen und Plakate, die das eigentliche Handeln ersetzen sollen und den Eindruck erwecken sollen, als täte man etwas, wenn sie auf all das verzichten würden, weil es einfach niemand mehr hören und ertragen kann, sie niemand mehr ernst nehmen kann, dann würde endlich das Recht wie Wasser strömen und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Die Ausflüchte, die Worthülsen würden endlich weggerissen, die Gesellschaft von all dem Müll, den sie in sich hineingefressen hat, entschlackt.

Und damit sie sich nicht täuschen, liebe Gemeinde. Das gilt nämlich nebenbei gesagt nicht nur für die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge, sondern auch in unseren eigenen Lebensbeziehungen, in unseren Familien. Nur, wenn wir es auch da können, können wir auch den Anspruch stellen, daß die anderen es auch können. Weil einen dann auch die anderen ernst nehmen können. Autorität entsteht durch Authentizität.

Wenn Gott zu uns spricht, wie es im Predigttext steht, dann will er uns damit sagen, daß er uns nur dann ernst nehmen kann, wenn wir ihn ernst nehmen und damit deutet er auf eine heftige Krise in unserer Beziehung zwischen ihm und uns als seinen Geschöpfen hin, dann erinnert er uns ganz heftig und mit Nachdruck an das, was bei Paulus steht (1. Kor. 13, 1-13):

Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht auf,
sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie läßt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit.
Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Dieser Bach heißt Liebe. Amen.


Predigt am Sonntag Estomihi 2000

5. März 2000 – Sonntag Estomihi

Evangelische Silas-Gemeinde zu Berlin-Schöneberg

Text: Amos 5, 21-24 (Reihe IV)