Pfr. Martin Dubberke
Wenn die Partnach zum reißenden Fluss wird | Bild: Martin Dubberke

Alles Betrüben ist der Anfang von Reflektion und Umkehr

Liebe Geschwister, seit Wochen, Monaten, Jahren werden wird unser Leben von Krisen und Katastrophen begleitet. In diesem Monat gedachten wir weltweit des zwanzigsten Jahrestages von nine eleven. In Paris begann der Gerichtsprozess, der das Attentat im Pariser Bataclan aufarbeitet. Uns begleiten tagtäglich Begriffe wie Klimakrise, Rentenkrise, Glaubenskrise, Afghanistankatastrophe, Flutkatastrophe, Malikrise, Flüchtlingskrise, Währungskrise, Lebenskrise, Pandemie… unser Leben scheint von Krisen und Katastrophen geschüttelt zu sein.

Ich habe mittlerweile auch viele Sendungen zur Wahl gesehen, die Trielle, die Klartexte und wie sie alle heißen, in denen sich die Kandidatin und Kandidaten den Fragen zweier Moderatoren stellen oder denen des Publikums, Antworten wagen, Attacken reiten. Es schälen sich in den Leserbriefen, Twitternachrichten und auch in diesen Publikumssendungen all diese genannten Themen heraus, Themen, die uns beschäftigen, Themen, die offen nach Lösungen fragen, die unser Leben bewegen.

Sind all diese Themen, Krisen, Katastrophen und die Pandemie Zeichen? Zeichen, endlich aufzuwachen, endlich umzukehren, sich auf den Weg zu machen?

Wir leben – ich wage es kaum zu sagen, weil es so vermessen klingen könnte – in schwierigen Zeiten. Sicherlich gab es schwierigere Zeiten in unserer Geschichte, aber in unserer Generation haben wir uns kaum größeren Herausforderungen stellen müssen als denen, die nun vor uns liegen, weil uns die Zeit davonläuft.

Und gleichzeitig geht es uns gut. Wir haben bislang Corona glimpflich überstanden. Viele von uns sind geimpft oder genesen oder haben einfach nur Glück gehabt – das letzte G wie Glück wäre dann gewissermaßen das vierte G.

Viele der Krisen, mit denen wir Tag für Tag in den Medien, in unseren Gesprächen konfrontiert werden, scheinen noch keinen Einfluss auf uns zu haben, nachhaltig etwas in unserem Leben ändern zu wollen. Und doch sind all das Hinweise darauf, dass wir etwas ändern müssen, dass wir unser Leben ändern müssen, unsere Erwartungen und unser Verhalten. Sagen nicht all diese Zeichen, dass wir in der Gefahr stehen, alles an die Wand zu fahren, alles zu verlieren?

Und was bedeutet es, wenn der Prediger Salomo sagt, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt?

Wenn es nichts Neues unter der Sonne gibt, dann bedeutet das doch auch, dass es für alles eine Erfahrung gibt, eine Erfahrung, die irgendwo dokumentiert worden ist, weitererzählt, die tradiert worden ist, damit alle daraus lernen können, auch die nachfolgenden Generationen, dass alle vor solchen Erfahrungen bewahrt werden.

Und genau in diesem Zusammenhang kommt der Bibel eine ganz besondere Bedeutung zu; ist sie doch das Buch, in dem sich jede Menge Erfahrungswissen befindet, Erfahrung mit dem Glauben, mit Gott, mit den Propheten, Erfahrungen aus der Geschichte, den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, Verwerfungen und Katastrophen, den Kriegen, Siegen, Niederlagen, den Rettungs- und den Untergangsgeschichten, den Sodom und Gomorrha-Erlebnissen und dem Ninive-Erlebnis, durch Umkehr doch noch einmal im letzten Moment gerettet zu werden. Es gibt also auch Erfolgserlebnisse. In diesem dicken Buch der Bücher, das eine ganze Bibliothek aus insgesamt 73 Büchern in sich birgt, wird uns alles verraten, was wir brauchen, um überleben zu können, egal, ob wir glauben oder nicht glauben, ob wir in der Kirche sind oder nicht. Dieses Buch ist für alle spannend, weil es ein spannender und äußerst hilfreicher Erfahrungsschatz ist.

Er ist spannend für uns in unserem täglichen Leben und er ist auch spannend für alle, die im Politischen Entscheidungen treffen, weil die Bibel sie immer wieder mit der Tragweite von Entscheidungen konfrontieren kann.

Nun gut, lange genug der Vorrede. Ich lese Euch nun einmal den Predigttext vor:

Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Klagelieder 3,22–26.31–32

Ich verrate noch nicht, aus welchem Buch diese Verse stammen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sich jetzt manch einer von Euch die Frage stellt, was meine Vorrede angesichts dieser Verse zu bedeuten habe. Das ist doch ein schöner Text, in dem von Güte, endloser Barmherzigkeit und Treue die Rede ist, der Geduld Gottes mit uns Menschen und der großen Güte Gottes. Also, was hat dieser Text mit Katastrophen oder Krisen zu tun? Will ich hier wieder etwas, nur weil wir jetzt ins Finale des Wahlkampfs gehen, politisch werden? Nein! Muss ich nicht. Will ich nicht, denn die Bibel als Zeugnis des Wortes Gottes hat schon aus sich heraus, wenn wir die gute Botschaft beherzigen, eine gesellschaftsrelevante Bedeutung, weil sich alles ändern kann, zum Guten, ja zum Besten, weil sich ein Christenmensch jeden Tag neu die Frage stellen muss, was er mit seinem Verhalten, Denken, Reden zum Gelingen des Wollen Gottes in unserer Welt beitragen kann, fern ab von Egoismus, weil doch unser Glaube, die Gemeinschaft, die gemeinschaftliche Verantwortung in den Mittelpunkt stellt, eine Verantwortung, die nicht an menschengemachten Grenzen endet, wie manche glauben.

Kürzlich warf mir jemand vor, Politikverdrossenheit zu fördern. Ein Christenmensch kann aber nicht politikverdrossen sein, weil aktiv bekennendes Christsein immer eine politische Dimension hat. Denken wir nun an Jeremia 29, 7:

Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen und betet für sie zum Herrn, denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.

Das griechische Wort für Stadt heißt Polis, es ist das Wort, aus dem das Wort Politik geworden ist. Wir haben also den Auftrag der Stadt, der Gemeinschaft Bestes zu suchen, damit es uns wohlgeht.

Das ist, glaube ich, die größte Herausforderung, die aus unserem Glauben herauswächst, weil sie deutlich macht, dass Glaube eine über sich selbst hinausgehende Verantwortung bedeutet. Das heißt aber nicht, einen Gottesstaat zu machen, sondern einfach die eigene Verantwortung wahrzunehmen und sei es durch ein einfaches Kreuz, was nicht immer so einfach fällt, weil kein Kandidat, keine Kandidatin, keine Partei die eierlegende Wollmilchsau und Paradieserschafferin ist. Und so kann die Wahlkabine mit einem Male zum einsamsten Ort dieser Welt werden.

Ja, Ihr habt recht, wenn Ihr jetzt denkt, dass ich noch immer nichts zum Predigttext gesagt habe. Aber ganz ehrlich, eigentlich habe ich schon ganz viel zum Predigttext gesagt, ohne, dass Ihr es gemerkt habt, weil ich noch nicht verraten habe, aus welchem Buch und aus welchem Kontext der Predigttext stammt.

Es sind einige wenige Verse aus den Klageliedern. Das scheint in unsere Zeit zu passen, in der wir uns über so vieles beklagen. Doch warum klagen oder beklagen wir uns immer wieder? – Genau, weil wir etwas verloren haben, was uns doch so wichtig und elementar war. Wir müssen bei uns nur auf die Zugspitze schauen, um zu sehen, was die Klimaveränderung direkt bei uns vor der Haustür verändert.

Die Klagelieder Jeremias sind eine Reaktion auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels von 586 vor Christus.  Die Klagelieder sind ein Blick in eine extrem krisengeschüttelte Zeit. Der Beter blickt auf das Katastrophenjahr der Zerstörung zurück, die Ursachen, die dazu geführt haben, dass das Volk alles verloren hat. Das Volk hatte nicht auf die Propheten gehört. Hatte all die Warnungen der Propheten in den Wind geschlagen. Ja, es ging sogar soweit, dass sie meinten, sich mit ihrer Armee den Mächtigen dieser Welt in den Weg stellen zu können. Das kleine Land Juda war zu stolz und zu hochmütig. Es war ein modernes Land, wirtschaftlich und technisch für seine Zeit gut aufgestellt, so dass der Hochmut seinen Ursprung im Selbstverständlichen hatte, in dem Gedanken, dass einem schon nichts passieren würde, wenn man so weitermachen würde. Dieser Hochmut, dieser Stolz blendete aber die Gefahren aus, ließ die Warnungen der Propheten zu lästigen Worten von irgendwelchen Pessimisten und Übelkrähen, Verdrossenheitspredigern werden. Die Menschen wollten sich nicht ändern, wollten sich nicht neu aufstellen, wollten nicht die Zeichen der Zeit sehen und damit die Bedrohungen, die, wenn man sich ihnen nicht stellt, immer größer werden, so groß, bis sie irgendwann nicht mehr handelbar sind.

Wir wissen aus der Geschichte heraus, was damals passiert ist. Das kleine Juda war zum Spielball der Großmächte geworden, hatte sich durch falsche Verträge in eine missliche Lage gebracht und war schließlich vernichtet worden und das Volk ins Exil geführt worden.

Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Klagelieder 3,22–26.31–32

Diese Worte des Beters sind zum einen Ausdruck seines tiefen Glaubens und zugleich auch ein Nachdenken über das, was das Leben ausmacht, was in unserem Leben wirklich von Bedeutung ist. Die Krise hat den Beter zum Nachdenken gebracht. Die Krise hat den Beter aus der Selbstverständlichkeit seiner Existenz herausgerissen, so wie uns Corona aus unserer Selbstverständlichkeit herausgerissen hat und jede Lockerung der Corona-Regeln uns wieder in eine vermeintliche Selbstverständlichkeit zurückführt.

Ich verrate Euch mal, wie es mir gegangen ist, als ich den Predigttext gelesen habe. Im ersten Moment dachte ich. Ach, was für ein schöner Text, mit Hoffnung, Erbarmen und allem anderen, was dazu gehört. Doch dann bliebt ich am letzten Vers hängen:

…sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

Da stockte mir dann doch für einen Moment der Atem und ich dachte mir: „Was für eine Pädagogik?“ Doch zugleich wurde mir bewusst, dass genau das das Grundproblem von uns Menschen ist. Wenn etwas wie Frieden und Wohlstand zu selbstverständlich wird, dann verlieren wir das Gefühl für die Dankbarkeit, die Wertschätzung, verlieren wir vielleicht sogar die Bodenhaftung mit Gott. Tja, und dann lässt er uns eben mal die Folgen spüren, damit wir wieder auf den Boden der Wirklichkeit kommen. Wenn dem so ist, ist alles Betrüben, der Anfang von Reflektion und Umkehr. Dann ist Betrüben die Erinnerung daran, dass wir Gott aus der Mitte unseres Lebens verloren haben, weil wir uns selbst in diese Mitte gestellt haben.

Aber wie hart dann auch die Folgen sind, die uns daraus erwachsen – und das macht der Beter in seinem Erleben der Katastrophe deutlich – so groß ist dann auch wieder die Geduld Gottes mit uns, dass er es noch immer aufs Neue mit uns versucht, uns nicht aufgibt. Und genau aus dieser Geduld und dieser Treue heraus, können wir uns wagen und trauen, unsere Verantwortung wahrzunehmen. Und das bedeutet, dass wir auch mutige Entscheidungen treffen dürfen, selbst wenn sie uns aus unserer Bequemlichkeit herausholen. Das bedeutet, dass wir uns unserer Verantwortung nicht entziehen können, denn letztendlich müssen wir uns immer wieder vor Gott verantworten.

Denn der Herr ist freundlich dem,
der auf ihn harrt,
und dem Menschen,
der nach ihm fragt.

Der Mensch, der nach Gott fragt, wird alles, was er tut und entscheidet, anders entscheiden, als wenn er sich mit seiner eigenen Begrenztheit in den Mittelpunkt stellt.  Wer Gott fragt, wird Antworten bekommen, die ihm nicht immer gefallen werden. Wer Gott fragt, wird mit einem viel weiteren Horizont entscheiden und handeln. Und das bedeutet, die Zeichen unserer Zeit nicht nur zu sehen, sondern auch als Aufträge zum Handeln anzunehmen. Dafür braucht es einen starken Glauben, in dem wir Mut finden, diese Dinge anzugehen. Nicht umsonst ermahnt und ermutigt der Autor des zweiten Briefes an Timotheus auch uns:

Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Nur so, werden wir nicht auf den Trümmern unserer Welt sitzen und klagen.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Pfarrer Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt über Klagelieder 3, 22–26.31–32, Perikopenreihe III, am 16. Sonntag nach Trinitatis, 19. September 2021 in der Johanneskirche zu Partenkirchen